Mit negativen Realzinsen aus der Stagnation?

16. September 2014

Steht uns ein stagnierendes Europa für die nächsten zehn, zwanzig Jahre bevor? Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Hypothese der sogenannten säkularen Stagnation. Diese Position hat in der wirtschaftspolitischen Debatte angesichts der anhaltend niedrigen Wachstums- und Inflationsrate auch in Europa an Aufmerksamkeit gewonnen. Die Hypothese der säkularen Stagnation besagt, dass vielen europäischen Ländern wegen anhaltend unzureichender Nachfrage, sowohl von Seiten des Konsums als auch der Investitionen, eine lange Zeit wirtschaftlicher Stagnation bevorstehen könnte. Das Eintreten eines solchen Szenarios ließe sich jedoch mit einem wirtschaftspolitischen Umdenken verhindern.

ÖkonomInnen glaubten in den Jahren vor der Krise, durch Fortschritte im Verständnis der wirtschaftlichen Funktionsmechanismen die Gefahr gebannt zu haben, dass Unternehmen zu wenig investieren und private Haushalte nicht genug ausgeben könnten, um die Produktionskapazitäten industrialisierter Volkswirtschaften voll auszuschöpfen. Die Hypothese säkularer Stagnation (fortan: SäkStag) rückt die Erwartung in den Mittelpunkt, dass unzureichende Nachfrage für eine lange, aber nicht genau bestimmbare Zeitspanne Europas zentrales wirtschafspolitisches Problem sein werde. Damit würden über die nächsten Jahrzehnte sehr niedrige Wachstumsraten und anhaltende Unterbeschäftigung einhergehen. Die ursächlichen Faktoren für diese erwartete Entwicklung gehen aus SäkStag-Perspektive in die Vorkrisenjahre zurück. Sie manifestieren sich in einem voranschreitenden Absinken der Realzinsen – berechnet als Nominalzinsen abzüglich der Inflation.

VertreterInnen der SäkStag-Hypothese, wie z.B. Larry Summers und Paul Krugman, argumentieren, die Krise habe Faktoren hervorgebracht, die auch hinkünftig Abwärtsdruck auf das Realzinsniveau ausüben werden, darunter:

  • der Rückgang der Investitionen
  • der nicht abgeschlossene Entschuldungsprozess von privaten Haushalten und Unternehmen
  • die zunehmende Nachfrage nach sicheren Veranlagungen, die sich etwa in historisch niedrigen Zinsen auf langfristige Staatsanleihen für Länder wie die USA, Deutschland und Japan niederschlägt
  • der auf vielen entwickelten Industrieländern lastende Budgetkonsolidierungsdruck, der die betroffenen Staaten zu exzessivem Sparen zwingt und damit die Nachfrage weiter schwächt 

Säkulare Stagnation – Was ist das?

Laut der SäkStag-Hypothese, werden in Zukunft negative Realzinsen erforderlich sein, um Investitionen und Ersparnisse gesamtwirtschaftlich so auszugleichen, dass Vollbeschäftigung erreichbar ist.

Der Realzins beeinflusst die Investitionsentscheidungen von Unternehmen und die Konsumentscheidungen privater Haushalte. Ein sinkender Realzins schafft Anreize für Investitionen und Konsum. Im Optimalfall sollte das Realzinsniveau dort liegen, wo die Unternehmen ihre Investitionen gegeben ihre Absatzerwartungen so wählen, dass die Volkswirtschaft mit ihrem Output-Potential produziert – jener Wirtschaftsleistung, bei der Vollbeschäftigung vorliegt.

Von entscheidender Bedeutung ist aus der Sicht der SäkStag-Hypothese, dass das derzeitige makroökonomische Umfeld durch zwei miteinander verwobene Probleme geprägt ist: Erstens können die Zentralbanken die Nominalzinsen nicht weiter absenken, weil diese bereits nahe bei 0 liegen. Die Nominalzinsen können von der Zentralbank nicht unter Null gesenkt werden, weil die Menschen sonst Bargeld statt Anleihen halten würden. Kein Asset kann somit einen negativen erwarteten Nominalertrag haben. Die geldpolitischen Möglichkeiten der Zentralbank, geringem Wirtschaftswachstum, niedriger Inflation und hoher Arbeitslosigkeit durch Zinssenkungen entgegenzusteuern, sind durch die Nulluntergrenze für Nominalzinsen im Moment stark eingeschränkt. Zweitens fällt die Inflation aufgrund der anhaltenden wirtschaftlichen Probleme seit längerem niedrig aus; in der Eurozone fiel sie zuletzt im Juli 2014 auf 0,4%. Diese Kombination aus der bindenden Untergrenze für Nominalzinsen und niedriger Inflation sorgt dafür, dass die Realzinsen nicht in einen deutlich negativen Bereich fallen können.

Wenn also die Einschätzung von SäkStag-VertreterInnen stimmen sollte, dass der mit Vollbeschäftigung konsistente Realzinssatz deutlich negativ sein bzw. bleiben müsste, dann impliziert dies eine anhaltend unzureichende Nachfrage. Denn Unternehmen halten mit Investitionen und KonsumentInnen mit Ausgaben zurück, wenn der Realzins nicht ausreichend negativ ist, um Anreize für Investitionen und Ersparnisse so zu setzen, dass Vollbeschäftigung erreichbar wäre. Die wirtschaftliche Entwicklung bleibt systematisch hinter dem Output-Potential zurück; unfreiwillige Arbeitslosigkeit verfestigt sich. Die Wirtschaft befindet sich in einer Situation chronischer Nachfrageschwäche; die Marktkräfte sind nicht geeignet, um sie aus dieser Lage zu befreien. Die Schlussfolgerung aus dieser Darstellung der SäkStag-Hypothese ist, dass es wirtschaftspolitischer Maßnahmen bedarf, um das persistente Nachfrageproblem zu bekämpfen.

Wirtschaftspolitische Probleme bei niedrigen Realzinsen

Was sind die mit der Erwartung anhaltend niedriger Realzinsen verbundenen wirtschaftspolitischen Probleme?

  • Erstens könnte die Nulluntergrenze für Nominalzinssätze in Zukunft eine noch größere Rolle spielen. Zentralbanken sind aufgrund dieser Einschränkung gezwungen, verstärkt zu unkonventionellen geldpolitischen Maßnahmen wie dem Aufkaufen von Staatsanleihen und anderen Wertpapieren zu greifen, um auf diesem Weg auf das Zinsniveau ein- und bestehenden Deflationstendenzen entgegenzuwirken.
  • Dies führt zum zweiten Problem: Die Bemühungen einer Zentralbank, den Realzins aggressiv nach unten zu drücken und über viele Jahre niedrig zu halten, machen das Entstehen von Blasen bei Vermögenswerten wie Aktien und Häusern wahrscheinlicher; dies stellt eine Gefahr für die Finanzmarktstabilität dar. Das Risikoverhalten von InvestorInnen steigt bei anhaltend niedrigem Zinsniveau; die Anreize zu unverantwortlicher Kreditvergabe nehmen zu, weil die Zinszahlungsverpflichtungen relativ gering sind. Wie kann mit den durch anhaltend niedrige Realzinsen entstehenden, unerwünschten Nebeneffekten auf die Finanzmarktstabilität umgegangen werden? Indem andere Instrumente verstärkt zum Einsatz kommen: Wenn Teile des Finanzsystems hohes Risikoverhalten zeigen, das negative systemische Konsequenzen zur Folge haben könnte, sind schärfere Regulierungen (z.B. höhere Eigenkapitalanforderungen für Finanzinstitutionen und striktere Kreditbeschränkungen bei der Finanzierung von Vermögenswerten) und die Einführung von Steuern (wie etwa einer Finanztransaktionssteuer) angezeigt, die dieses Risikoverhalten unterbinden und systemische Verwerfungen reduzieren.
  • Drittens macht das Einnehmen einer SäkStag-Perspektive ein Umdenken der Rolle von Fiskalpolitik notwendig. Temporäre defizitfinanzierte Beschäftigungspolitik zur Gegensteuerung in Krisenzeiten könnte in Zukunft zu wenig sein. Wenn der mit Vollbeschäftigung konsistente Realzins weiterhin deutlich negativ sein sollte, würde dies die Effektivität von Geldpolitik einschränken und hätte anhaltend unzureichende Nachfrage zur Folge. Der Staat muss in einer solchen Situation mit beschäftigungsfördernder Fiskalpolitik einspringen, um entstehende Nachfragelücken zu schließen – und das in großem Ausmaß und über viele Jahre hinweg. Sollte diese fiskalpolitische Unterstützung – insbesondere in einer Situation wie derzeit in der Eurozone, in der in vielen Ländern der Privatsektor weiterhin spart, um seine Schulden abbauen zu können – ausbleiben, droht das Abrutschen in eine Deflationsspirale.

 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen?

Gegen die SäkStag-Hypothese spricht, dass die Zukunft naturgemäß ungewiss ist. Der mit Vollbeschäftigung konsistente Realzins ist nicht beobachtbar; ÖkonomInnen können nur versuchen, ihn mithilfe ökonomischer Modelle zu schätzen; mittel- oder gar langfristig treffsichere Prognosen sind unmöglich. Es ist denkbar, dass das Produktivitätswachstum aufgrund von neuen Erfindungen oder der besseren Nutzbarmachung bestehender Technologien in den nächsten Jahrzehnten signifikant zunehmen und zu verstärktem Wirtschaftswachstum führen wird. Auch eine Zunahme des Bevölkerungswachstums ist nicht auszuschließen, was höhere Investitions- und Konsumnachfrage nach sich ziehen könnte.

Obwohl also nur die Zeit weisen kann, ob die SäkStag-Hypothese verworfen werden muss, sprechen zwei gewichtige Argumente dafür, sich mit den Überlegungen führender SäkStag-VertreterInnen auseinanderzusetzen. Erstens wären die wirtschaftlichen und sozialen Kosten immens hoch, wenn SäkStag eintreten sollte, ohne dass entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Zweitens schlägt ein Großteil der wirtschaftspolitischen Empfehlungen zur Bekämpfung von anhaltender wirtschaftlicher Stagnation zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Maßnahmen, die aus der Diagnose eines möglichen mittel- bis langfristigen Problems unzureichender Nachfrage abgeleitet werden, würden sowohl kurzfristig Wachstum und Beschäftigung ankurbeln als auch SäkStag entgegenwirken.

Was wäre also zu tun? Fiskalpolitisch ist eine aggressivere Beschäftigungspolitik notwendig, um unzureichender Nachfrage entgegenzuwirken. Besonders entscheidend sind Investitionen in Infrastruktur und Bildung, die das langfristige Wirtschaftswachstum und den mit Vollbeschäftigung konsistenten Realzins anheben würden. Eine höhere Besteuerung von Top-Einkommen und eine Entlastung niedriger Einkommen würde die Nachfrage stärken, weil GeringverdienerInnen einen höheren Anteil ihrer Einkommen ausgeben als Top-VerdienerInnen.

Geldpolitisch ist ein konsequentes Niedrighalten des Zinsniveaus und eine Verstärkung unkonventioneller geldpolitischer Maßnahmen wie das Aufkaufen von Staatsanleihen im Kampf gegen die Deflationstendenzen angezeigt. Auf Regulierungs- und Aufsichtsebene müsste die Finanzmarktstabilität durch schärfere Regulierungen gestärkt werden, um den bei anhaltend niedrigen Zinsen bestehenden Sorgen über Blasenbildungen bei Vermögenswerten und deren möglichen realwirtschaftlichen Konsequenzen Rechnung zu tragen.

Die Maßnahmen, um lange Jahre der Stagnation in Europa zu verhindern, müssten demnach zu einem Großteil nicht erst neu erfunden werden, sondern werden bereits heftig diskutiert und liegen auf dem Tisch. Säkulare Stagnation ist bei Anwendung der angeführten Instrumente vermeidbar; sollte sie jedoch eintreten, wäre sie selbst verschuldet.