Spanien: Ökonomische Trendwende durch stillen wirtschaftspolitischen Kurswechsel

13. Juli 2015

Die spanische Wirtschaft gilt einmal mehr als Vorzeigemodell: Harte Spar- und Reformpolitik sei für das neuerdings überdurchschnittliche Wachstum verantwortlich. Tatsächlich zeigt sich jedoch, dass die Arbeitslosenrate mit 23% nach wie vor hoch und die Wirtschaftsleistung weiter unter Vorkrisenniveau liegt. Gleichzeitig sind erste Verbesserungen nicht auf die Reformagenda, sondern vor allem auf einen stillen budgetpolitischen Kurswechsel und die Politik der EZB zurückzuführen.

Bei den fast flächendeckenden Regional- und Kommunalwahlen Ende Mai gab es ein Debakel für die mit absoluter Mehrheit regierende Volkspartei (PP). Die neuen Mehrheitsverhältnisse brachten einen Linksruck, der in den Großstädten – allen voran Madrid und Barcelona – von Linksbündnissen geführte Stadtregierungen ermöglichte. Diese gingen aus den Widerstandsbewegungen gegen die Kürzungen bei öffentlichen Ausgaben und ArbeitnehmerInnenrechten hervor. Ministerpräsident Rajoy wolle zwar aus dem Debakel Konsequenzen ziehen, lehnte aber gleichzeitig einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel ab, denn nur so könne die wirtschaftliche Erholung ermöglicht und Beschäftigung geschaffen werden.

Was das nun wirtschaftspolitisch bedeutet, ist allerdings unklar, nachdem Diskurs und Praxis seit Ende 2013 nicht mehr zusammenpassen. Während weiterhin exportorientierte Strukturreformen propagiert wurden, war es vor allem die anziehende Inlandsnachfrage, die zur ökonomischen Trendwende führte. Wie diese Entwicklung in Spanien zustande kommen konnte, ist auf den ersten Blick verwunderlich. So wurden die Löhne mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit in der Krise laufend gesenkt und die öffentlichen Ausgaben durch Austeritätspolitik geschmälert. In Kombination mit der Wirtschaftskrise betrug der Rückgang der Binnennachfrage nominal 14% (2013 zu 2008), während sie etwa in Österreich um 12% stieg.

Nachfrageentwicklung Spanien © A&W Blog
Quelle: Europäische Kommission (AMECO-Datenbank Mai 2015), eigene Berechnungen. © A&W Blog
Quelle: Europäische Kommission (AMECO-Datenbank Mai 2015), eigene Berechnungen.

Europäische Hilfe ermöglichte nachfragegetriebene Erholung

Eingeleitet wurde die Trendwende Ende 2013 mit europäischer Hilfe – zum Teil entgegengesetzt zum propagierten Austeritätskurs:

  1. Die Stabilisierung der spanischen Banken bewirkte mehr Spielräume für die Kreditvergabe, sodass die Nachfrage trotz schwacher Einkommensentwicklung stieg.
  2. Die Ankündigung der EZB, die Eurozone – und damit auch Spanien – um jeden Preis zu stabilisieren, ermöglichte ab Mitte 2012 rasch sinkende Zinskosten insbesondere (aber nicht nur) des öffentlichen Sektors (von 7 auf unter 2 Prozent).
  3. Im Sommer 2013 wurden die Sparvorgaben deutlich gelockert (vgl. Vorgaben 2013 und 2012) und die trotzdem aufgetretenen Verfehlungen bei den strukturellen Konsolidierungsvorgaben kaum kritisiert. Seitdem gab es nur noch kleinere Sparmaßnahmen – in Summe begann die öffentliche Nachfrage im 4. Quartal aber wieder zu steigen, nachdem sie zuvor 14 Quartale hindurch geschrumpft war. Ähnliches gilt auch für die öffentliche Beschäftigung.
  4. Ein letzter, indirekter Effekt ist im Bereich der Löhne zu verzeichnen. Hier half einerseits, dass die europäischen Empfehlungen zu weiteren Lohnkürzungen und Schwächung überbetrieblicher Kollektivverträge nur zum Teil durchsetzbar waren. Zwar wurden entsprechende Gesetze, die ein Ende des Kollektivvertragssystems im Sommer 2013 bedeutet hätten, von der spanischen Regierung 2012 beschlossen, doch konnte sie nicht verhindern, dass in der Praxis die spanische Sozialpartnerschaft überraschend beständig war. Andererseits scheint die Deflation bei gleichzeitiger Nominallohnrigidität leicht steigende Reallöhne ermöglicht zu haben. Nachdem gleichzeitig die Beschäftigung wieder leichte Zuwächse verzeichnete, stieg die für die Binnennachfrage zentrale gesamtwirtschaftliche Lohnsumme Ende 2013 erstmalig wieder an.

Insgesamt ermöglichten diese Faktoren, dass 2014 erstmalig nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise in Spanien wieder ein über dem Durchschnitt der Eurozone liegendes Wirtschaftswachstum zu verzeichnen war. Entgegen den Lobgesängen auf die „wettbewerbsorientierten Strukturreformen“ in Spanien hatte die Erholung mit diesen praktisch nichts zu tun, sondern war klar von der gestiegenen Binnennachfrage getrieben: Just im ersten Quartal, in dem wieder ein Wirtschaftswachstum erzielt werden konnte, war der Außenbeitrag erstmalig seit 2010 wieder (leicht) negativ.

Das zeigt das Grundproblem neoliberaler Wirtschaftspolitik, nämlich die fehlende vollständige Berücksichtigung der Nachfrageseite. Der Fokus wird auf den Export gerichtet, obwohl dieser im Falle Spaniens nur gut ein Viertel der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ergibt. Der Rest – also der bei weitem überwiegende Anteil – entfällt auf die Binnennachfrage, sprich den privaten und öffentlichen Konsum sowie Investitionen. Und selbst bei den Exporten wird das Potenzial überschätzt, wenn man bedenkt, dass mehr als die Hälfte der Exportnachfrage auf Frankreich, Deutschland, Italien, Portugal und Großbritannien entfällt – und damit Länder, in denen dieselbe nachfrageschädigende Exportorientierung verfolgt wird. Das Kalkül dieser europäischen Wirtschaftspolitik konnte nicht aufgehen. Erst als in der Praxis von diesem Dogma abgerückt wurde, konnte die Rezession überwunden werden.

Soziale Lage bleibt angespannt

Mit dem Wirtschaftswachstum stieg erstmalig auch wieder die Beschäftigung, nachdem in den Jahren zuvor 3,8 Mio Arbeitsplätze (bzw mehr als 18%) vernichtet worden waren. Zynisch betrachtet haben die Arbeitsmarktreformen hier in der Tat Wirkung gezeigt: Sie signalisierten glaubhaft, insbesondere der Jugend, dass existenzsichernde Arbeitsplätze in Spanien auch langfristig für viele nicht mehr realistisch sind. Die Botschaft kam an und führte zu einer Zunahme der Auswanderung – einer der Gründe, warum seit dem 3. Quartal 2012 die Erwerbsbevölkerung um ca 600.000 Personen geschrumpft ist. In Kombination mit der – vor allem durch Teilzeitjobs – steigenden Beschäftigung (ein Plus von knapp 500.000 Personen) war es möglich, dass die Arbeitslosenrate von ihrem Höchststand von über 26% im Frühjahr 2013 auf zuletzt 23% gesenkt werden konnte.

Die angespannte Arbeitsmarktlage ist damit nur bedingt entschärft. Nach wie vor ist die Hälfte der Jugendlichen arbeitslos. Insbesondere in Südspanien liegt die allgemeine Arbeitslosenrate weiterhin bei einem Drittel. In mehr als einem Zehntel der Haushalte sind alle Erwerbspersonen arbeitslos. Dies verschärft natürlich die angespannte soziale Situation. Jene, die Beschäftigung finden, müssen sich oft mit befristeten Verträgen bzw Teilzeitjobs und niedrigen Löhnen zufrieden geben. Im aktuellen, von der Caritas und der FOESSA-Stiftung herausgegebenen, Sozialbericht bzw des dafür entwickelten Indikators für soziale Integration ist nur mehr gut ein Drittel der Bevölkerung gesellschaftlich voll integriert. Der Rückgang seit 2007 ist auf die steigende Zahl der prekär Integrierten (41%, ein Plus von 7Prozentpunkten) sowie der (eher) Exkludierten (25%, ein Plus von 9Prozentpunkten) zurückzuführen. Besonders plakativ zeigt sich die Exklusion bei der wachsenden Zahl der Delogierungen aufgrund von Nichtbedienbarkeit der Hypothekarkredite, die zu einem gesellschaftlich relevanten Konfliktfeld geworden sind.

Budgetpolitische Auseinandersetzung bleibt zentral

Die angespannte soziale Lage in Kombination mit zahlreichen Korruptionsfällen bildete den Hintergrund für die deutliche politische Machtverschiebung bei den Regional- und Kommunalwahlen Ende Mai. Zentrales Wahlkampfthema war die Sparpolitik der vergangenen Jahre. Ob sie in der Zukunft wieder verschärft wird, hängt insbesondere von der europäischen Ebene ab. Bisher übten Kommission und Rat nur sehr leise Kritik an der fehlenden Umsetzung der strukturellen Budgetziele. Sie gaben sich mit dem konjunkturell bedingten Rückgang des Defizits in Folge des über den Erwartungen liegenden Wirtschaftswachstums zufrieden, obwohl anstelle des geforderten Abbaus des strukturellen Defizits um 1,9% des BIP (2015 gegenüber 2013) nun sogar ein Anstieg um 0,3% des BIP erwartet wird.

Sollte sich der Aufschwung in der Zukunft allerdings abschwächen, wird die im Mittelpunkt des Defizitverfahrens stehende Unterschreitung der 3-Prozent-Grenze nicht zu erreichen sein (ausgehend von einem Maastricht-Defizit von 5,8% des BIP 2014). Wie bereits Ende 2011 könnte sich unmittelbar nach den für November geplanten Parlamentswahlen eine Situation ergeben, in der die neue Regierung mit massivem Austeritätsdruck seitens der europäischen Institutionen konfrontiert ist.

Ob dieses Szenario eintritt, hängt in zweierlei Hinsicht vom Wahlergebnis ab. Erstens legt das Beispiel Griechenland den Verdacht nahe, dass das neoliberale Reformbündnis auf europäischer Ebene bei einer Niederlage seines spanischen Teils den Druck verstärken wird. Und zweitens wird der Druck vor allem dann spürbar, wenn auch der Widerstand gegen die Umsetzung der europäischen Vorgaben zunimmt – wovon bei einer Regierungsbeteiligung von Parteien links der Sozialdemokratie auszugehen ist.

Ob es aber in Spanien zu einem politischen Richtungswechsel kommen wird, ist nach den Regional- und Kommunalwahlen offen. Zumindest ohne „Grexit“ könnte die kurzfristige wirtschaftliche Entwicklung für die Entscheidung der Wahlen weniger wichtig sein als die Performance der neuen Regierungen in den Städten und Bundesländern.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der aktuellen Ausgabe der Wirtschaftspolitik-Standpunkte. Für den Blog wurde er aktualisiert und leicht gekürzt.