„Schockstrategie“ in Europa?

06. September 2013

Die Ereignisse in Europa seit 2008 können rückblickend als eine Abfolge von Schocks betrachtet werden, die von der Gefährdung der Finanzstabilität über schwere wirtschaftliche Verwerfungen bis hin zu drohenden Staatsinsolvenzen reichen. In diesem Klima wurde in immer mehr Staaten eine Reihe von neoliberalen „Reformen“ umgesetzt, die in normalen Zeiten auf dem Weg demokratischer Abstimmungsprozesse niemals durchsetzbar gewesen wären.

In ihrem Buch „Die Schockstrategie. Der Aufstieg des Katastrophenkapitalismus“ beschreibt Naomi Klein, wie der „Siegeszug der neoliberalen Ideologie“ seit gut 30 Jahren vor allem auf Krisen, Gewalt und Katastrophen beruht. Maßnahmen wie die Beseitigung der öffentlichen Sphäre bzw. weitestgehende Privatisierungen, Deregulierung und das Zusammenschrumpfen von Sozialausgaben – also ein radikaler marktwirtschaftlicher Umbau – werden nicht demokratisch durchgesetzt. Vielmehr bietet erst „die Atmosphäre einer großen Krise den notwendigen Vorwand, sich über Wählerwünsche hinwegzusetzen und das Land „Wirtschaftstechnokraten“ zu überlassen.“ Klein bezieht sich unter anderem auf Sri Lanka nach dem Tsunami, New Orleans nach dem Hurrikan Katrina und auf den Irak nach dem Krieg.[i]  Im Rahmen dieses Beitrages wird die These aufgeworfen, dass die ökonomisch schockartigen Ereignisse (die auch über die normalerweise in den Wirtschaftswissenschaften diskutierten Arten von Schockshinausgehen), im Zuge der Krise in Europa ebenso zur weiteren Verfestigung neoliberaler Wirtschaftsstrukturen genutzt wurden.

Abfolge von ökonomischen Schockereignissen in Europa

Im Herbst 2008 eskalierte die bereits schwelende Finanzkrise mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman-Brothers, und es kam zu schweren Verwerfungen am Finanzsektor. Auch in Europa wurden milliardenschwere Programme zur Bankenrettung und Systemstabilisierung aufgelegt. Die Angst vor einem massenhaften Ansturm auf Banken stand im Raum. Dabei wäre in den Jahren davor die „Prognose“, dass hochprofitable Finanzinstitute im großem Stil mit öffentlichen Geldern gerettet werden würden, noch als absurdes Szenario empfunden und keineswegs im Rahmen demokratischer Abstimmungsprozesse befürwortet worden. Angesichts des Schocks der Gefährdung der Finanzstabilität wurden aber ab 2008 Kapitalzuschüsse an Banken und Haftungsübernahmen immer mehr zur Normalität.

In Folge der Finanzkrise und dem damit einhergehenden Konjunktureinbruch kam es zu einem sprunghaften Anstieg der öffentlichen Verschuldung auch im Euroraum, nämlich von 66,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) im Jahr 2007 auf 79,9 Prozent des BIP im Jahr 2009. Inzwischen ist die Verschuldung bei über 90 Prozent des BIP gelandet. Auf der Gläubigerseite wiederum verknappten beginnend mit 2008 vor allem deutsche und französische Banken ihr Kreditangebot gegenüber den heutigen Krisenstaaten. Damit kam es zu einer plötzlichen Schubumkehr der bis dahin üppigen Kapitalflüsse (Sudden Stop). Daneben stiegen auch die Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen der Eurostaaten bedrohlich an, die sich aus den Importdefiziten und Exportüberschüssen der einen und Importüberschüssen und Exportdefiziten der anderen ergaben. Dazu trug die geradezu kompromisslose Wettbewerbsorientierung vor allem in Deutschland erheblich bei, wo man stark auf Lohnzurückhaltung abstellte.

Ab 2010 standen nicht mehr der außer Kontrolle geratene Finanzsektor und dessen Regulierung im Fokus. Unbeeindruckt von schweren Systemproblemen infolge von Finanzmarktderegulierung verlagerte sich die Krisenerklärung auf „fehlende haushaltspolitische Disziplin“ von Regierungen und auf den „überbordenden Sozialstaat“. Angesichts des Schocks eines drohenden Staatsbankrotts waren immer mehr Staaten gezwungen, unter den sogenannten „Rettungsschirm zu schlüpfen“. Die Rettung wurde jedoch an die Umsetzung harter austeritätspolitischer „Reformen“ bzw. Kürzungen geknüpft, die in normalen Zeiten auf demokratischem Weg niemals durchsetzbar wären. Ab nun wurde alles daran gesetzt, jene Märkte, deren Kollaps man gleichzeitig mit großem monetären Aufwand abwehrt, mittels „Reformen“ zu „beruhigen“, die vor allem aus Einschnitten ins Sozial-, Gesundheits- und Bildungssystem und aus Privatisierungen bestehen.

(Markt-)Krise als Druckmittel für neoliberalen Umbau

Aufgrund der Hilfsmaßnahmen und vor allem wegen der Ankündigung von EZB-Präsident Mario Draghi, dass die EZB „als wirksames Schutzschild für die Eurozone gegen die Stürme an den Märkten“ unbegrenzt Anleihen von Staaten kaufen würde, wurde zumindest eine weitere Eskalation der Refinanzierungskosten bzw. der Zinsen für Staatsanleihen verhindert. Dies stößt mancherorts aber bereits auf Missfallen. So setzt Othmar Issing, ehemals Mitglied des EZB-Direktoriums und Chefvolkswirt der Notenbank, alles auf den Markt: „Ich bin fest davon überzeugt, dass wir für ein stabile Währungsunion eine Kontrolle außerhalb der Politik brauchen.“, denn: „Länder führen offenkundig nur dann Reformen durch, wenn die Märkte schlechte Politik bestrafen.“ Und er beklagt: „Die Politik erlaubt den Märkten diese Kontrolle aber nicht, sondern entscheidet über Hilfsmaßnahmen, die diese Signale unterdrücken und so den Reformwillen schwächen.“ Was er genau unter „Reformen“ versteht, erklärt er nicht.[ii]

Der Chef der deutschen Bundesbank Jens Weidmann kann der Diskussion über ein drittes Rettungspaket für Griechenland in diesem Sinn etwas abgewinnen: „Niemand wünscht sich eine weitere Zuspitzung der Lage. Aber die Erfahrung zeigt, dass die Politik häufig nur unter einem gewissen Druck zu handeln bereit ist.“[iii] Auch Mario Monti, ehemals EU-Kommissar und Premier Italiens, möchte einen nachlassenden Reformeifer in Italien verhindern: „Auch bei den Liberalisierungen gibt es noch viel zu tun. Dort müssen wir es schaffen, uns gegen Lobbys zu stellen – egal, ob das die Anwälte, die Gewerkschaften oder andere Verbände sind.“ Diesbezüglich scheint ihm die Dauer der Krise entgegen zu kommen: „Frau Merkel führt mit der richtigen Dosis. In der Griechenlandkrise hatte sie eine klare Führungsrolle, auch wenn ihr viele vorgeworfen haben, zu langsam gewesen zu sein. Das ist eine Kritik, die teils gerechtfertigt ist. Aber es ist auch wahr, dass vielleicht Länder ihre Haushalte nicht so stark saniert hätten und wieder schneller in alte Muster zurückgefallen wären, wenn wir die Krise schneller gelöst hätten.“[iv]

Angela Merkel ihrerseits sieht in der Krise noch weiteres Potential um „Elemente der Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern“, und stellt dabei vor allem „Lohnstückkosten [und] Lohnzusatzkosten“ ins Zentrum. Derartige „Strukturreformen“ seien gerade jetzt, so die deutsche Kanzlerin in ihrer Rede vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos, durch Pakte für Wettbewerbsfähigkeit für alle Euro-Staaten verbindlich zu vereinbaren. Dabei sei die massiv angestiegene Arbeitslosigkeit in Europa eine Chance, denn auch in Deutschland hätte erst die Zahl von fünf Millionen Arbeitslosen eine wettbewerbliche Ausrichtung ermöglicht.[v]

Using the crisis …

Der angekündigte Erfolg dieser neoliberalen „Reformen“ lässt allerdings auf sich warten. Immer wieder müssen Prognosen nach unten korrigiert werden, bereits geringe Wachstumsschritte werden hochgejubelt. Mitte 2013 befindet sich Europa in schlechtem Zustand. Laut Schätzungen von Eurostat waren im Juli 2013 deutlich über 26 Millionen Menschen in der EU28 arbeitslos, fast um eine Millionen Menschen mehr als im Juli ein Jahr zuvor. In Teilen Europas kommt es zu autoritären Eingriffen in die Lohnpolitik und Gewerkschaften werden geschwächt, demokratische Entscheidungsprozesse über Wirtschaftspolitik geraten unter Druck. Die massive Ungleichheit der Verteilung der Einkommen und Vermögen im Euroraum verfestigt sich, ebenso wie die Spannungen innerhalb und zwischen den Staaten in Europa. Die Staatsschuldenquote steigt indessen weiter. Der Nobelpreisträger Paul Krugman zog im Hinblick auf Großbritannien den Schluss, dass Kürzungspolitik nicht dazu da ist Defizite und Schulden zu reduzieren, sondern die Defizitpanik wird viel mehr als Rechtfertigung für den Abbau von Sozialprogrammen benutzt: „So the austerity drive in Britain isn’t really about debt and deficits at all; it’s about using deficit panic as an excuse to dismantle social programs.“ Und er stellt insgesamt fest, dass der Antrieb für die Austeritätspolitik das Nützen der Krise ist, nicht deren Lösung: „For economic recovery was never the point; the drive for austerity was about using the crisis, not solving it. It still is.“ Der US-Professor und Autor Noam Chomsky wird konkret. Er weist darauf hin, dass Europas Politiken nur unter der Annahme Sinn machen, dass es darum geht, den Wohlfahrtsstaat auszuhöhlen und aufzulösen: “Europe’s policies make sense only on one assumption: that the goal is to try and undermine and unravel the welfare state.“


[i] Klein Naomi, Die Schockstrategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Frankfurt am Main 2010, 3. Auflage

[ii] Handelsblatt 15.7.2013, Othmar Issing „Wir brauchen die Kontrolle durch die Märkte“

[iii] Handelsblatt 26. August 2013, Jens Weidmann „Die Krise ist nicht vorbei“

[iv] Handelsblatt 11. Juli 2013, Montis Mahnung

[v] Oberndorfer Lukas, Die Antwort auf die soziale Krise: Troika für alle! Pakt(e) für Wettbewerbsfähigkeit als nächste Etappe in der Entdemokratisierung der Wirtschaftspolitik?, in: infobrief eu&international, März 2013