Rede zur Lage der Union – aus Fehlern lernen statt neue zu machen

13. Oktober 2021

Auf den ersten Blick erscheint die Rede zur Lage der Union 2021, die Kommissionspräsidentin von der Leyen vor Kurzem gehalten hat, recht unspektakulär. Eine nähere Analyse zeigt jedoch zumindest in Ansätzen einen Sinneswandel in der EU-Wirtschaftspolitik. Gleichzeitig gibt die Rede einen Einblick in äußerst bedenkliche Entwicklungen, die sich derzeit weltweit ereignen – und damit ist nicht nur die Klimakrise gemeint.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nutzte die erste Sitzung des Europäischen Parlaments nach der Sommerpause, um mit der Rede zur Lage der Union die aktuellen Herausforderungen auf EU-Ebene aus Sicht der Europäischen Kommission zu skizzieren. Ein Überblick:

Zugang zu Impfstoffen eine Frage des Wohlstands der Länder

Nach wie vor ist die COVID-Pandemie ein zentrales Thema für die Europäische Kommission. Der Fokus liegt vor allem bei den Impfungen. Laut der Kommissionspräsidentin von der Leyen hat sich Europa bislang 1,8 Mrd. Impfdosen sichern können. 250 Mio. Dosen sollen zudem an Länder außerhalb der EU weitergegeben werden und noch einmal 200 Mio. Dosen sollen folgen. Auch Impfkapazitäten in Afrika sollen aufgebaut und gefördert werden.

Von der Leyen macht zudem auf die massiven Ungleichheiten bei der Impfrate aufmerksam und merkt an, dass nur ein Prozent aller Impfungen in einkommensschwachen Ländern verabreicht wurden. Dennoch wird die Notwendigkeit, die Impfstoffe als globales öffentliches Gut einzustufen, mit keinem Wort erwähnt. Nach wie vor lässt die Kommission den Marktmechanismen freien Lauf, obwohl eine rasche weltweite Durchimpfung notwendig wäre, um die Pandemie ausbremsen zu können. Die EU-Ebene kauft lieber einige 100 Mio. Extra-Dosen und gibt sie an ärmere Länder weiter, als eine Vereinbarung mit den Pharma-Firmen zu treffen und den weltweiten freien Zugang zu Impfstoffen zu ermöglichen. Die Pharmaindustrie freut es, und allein der Konzern Biontech hat im 1. Quartal 2021 rund 1,1 Mrd. Euro Gewinn gemacht – bei einem Umsatz von etwas mehr als 2 Mrd. Euro im gleichen Zeitraum. Da wird die Anschrift der Impfstofffirma „An der Goldgrube“ in Mainz zum Nomen est omen.

Selbst innerhalb der EU wird die Ungleichheit aufgrund des unterschiedlichen Wohlstands sehr deutlich: Während Dänemark eine Durchimpfungsrate von 83,7 Prozent aufweist und Malta sogar mit über 90 Prozent an erster Stelle liegt, sind die beiden ärmsten EU-Länder auch gleichzeitig die Staaten mit der niedrigsten Impfungsrate, nämlich Rumänien mit 30,5 Prozent und Bulgarien mit gar nur 19,5 Prozent.

Natürlich ist es positiv, wenn die EU-Institutionen den Gesundheitssystemen in den EU-Ländern verstärkt Aufmerksamkeit widmen. So wird nun eine Europäische Gesundheitsunion ins Leben gerufen, und mit HERA (Health Emergency Preparedness and Response Authority) eine eigene Behörde gegründet, die bei der Eingrenzung von Pandemien künftig helfen soll. Eine rasche Steigerung der EU-Impfquote durch eine ausreichende Versorgung mit Impfstoffen für die Länder mit niedrigen Impfraten und eine Informationskampagne für Leute, die noch mit einer Impfung zögern, wäre aber in dieser Phase vermutlich sinnvoller gewesen.

Lehren aus der Pandemie aus wirtschaftlicher Sicht

Positiv festzuhalten sind die Maßnahmen, die die Kommission gesetzt hat, um rasch aus der pandemiebedingten Rezession herauszukommen. Darunter fällt das SURE-Programm, über das im Jahr 2020 rund 30 Millionen Beschäftigte unterstützt wurden, und das „NextGenerationEU“-Konjunkturpaket mit einem Umfang von 750 Mrd. Euro. Auch das Aussetzen der strikten Fiskalregeln für die EU-Mitgliedsländer bis Ende 2022 und die Ankündigung der Überprüfung der Regelungen zur wirtschaftspolitischen Steuerung sind zu begrüßen. Die Fehler, die die EU-Entscheidungsträger:innen im Zuge der Finanzkrise ab 2008 begangen haben, hat die Europäische Kommission damit diesmal nicht gemacht, was auch Kommissionspräsidentin von der Leyen hervorhebt. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie die Reform der Fiskalregeln aussehen wird, die ein Korsett für dringend notwendige öffentliche Investitionen beispielsweise für die Bekämpfung des Klimawandels oder für die Digitalisierung darstellen. Eine zentrale Forderung von vielen Seiten, unter anderem von den Arbeitnehmer:innenvertretungen, ist neben mehr Flexibilität bei den öffentlichen Ausgaben eine Beteiligung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente bei der Überarbeitung der entsprechenden Gesetze. Grundsätzlich entspräche das den Regeln des normalen Gesetzgebungsverfahrens. Das Problem: Der Fiskalpakt wurde unter Umgehung demokratiepolitischer Normen sowie über Verordnungen ohne Kompetenzgrundlage im Jahr 2012 verabschiedet. Davon spricht die Kommissionspräsidentin (noch) nicht. Sie wird sich aber daran messen lassen müssen, dass sie sich bei der Überarbeitung der Fiskalregeln an demokratiepolitische Grundprinzipien hält. Merkwürdig mutet es jedoch an, dass von der Leyen von notwendigen Strukturreformen spricht und dabei ausgerechnet die geplante Steuerreform in Österreich hervorhebt.

Sozial- und steuerpolitische Aspekte

Nach wie vor bleiben steuer- und sozialpolitische Themen wesentlich für die Kommission. Die Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte wird genauso hervorgehoben wie der Abschluss des Abkommens zur Mindestbesteuerung von Unternehmen. Von der Leyen kündigt jedoch auch einen Gesetzesvorschlag an, der gegen versteckte Gewinne von Briefkastenfirmen vorgehen soll. Steuergerechtigkeit ist laut der Kommissionspräsidentin ganz wesentlich zur Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit. Damit einhergehend kündigt die Kommission auch das sogenannte Programm ALMA an, das Menschen helfen soll, die weder über eine Berufsausbildung verfügen noch zur Schule gehen. Mit dem Programm soll die Möglichkeit eröffnet werden, Berufserfahrung zu sammeln.

Maßnahmen gegen die Klimakrise weiterhin im Fokus

Nach wie vor verfolgt von der Leyen das Ziel, die Emissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent zu senken, erwähnt unter anderem Elektroautos und saubere Flugzeuge und hebt besonders den Klima-Sozialfonds hervor. Mit dem Fonds soll Energiearmut bekämpft werden, von der bereits jetzt schon 34 Millionen EU-Bürger:innen betroffen sind. Zentral wird aus Sicht der Kommission die UN-Klimakonferenz sein, die im November 2021 stattfinden wird. Außenpolitisch strebt die Kommission Investitionen in Afrika zur Gewinnung von grünem Wasserstoff an.

Der Kommission kann man nicht absprechen, dass sie bemüht ist, das 2015 bei der Pariser Klimakonvention vereinbarte Ziel von maximal 1,5 Grad Erderwärmung bis 2100 zu erreichen. Das Lobbying, das zu den Maßnahmen im Zuge des Grünen Deals nun gesetzt wird, ist allerdings massiv. Die Nichtregierungsorganisation Corporate Europe Observatory hat in einer Untersuchung festgestellt, dass gerade Energiekonzerne Milliardenförderungen aus den Töpfen für den Grünen Deal erhalten. Die Interventionen erfolgen insbesondere bei den Mitgliedsländern selbst. Das zeigt auch die Problematik auf, dass das Gelingen der Maßnahmen gegen den Klimawandel nicht nur von der Kommission, sondern auch von den Mitgliedsstaaten mitgetragen werden muss. Gerade hier sind jedoch durchaus Zweifel angebracht.

Die Pandemie und die Handelspolitik

Jahrzehntelang setzte die Europäische Union auf das neoliberale Konzept der Globalisierung, lagerte die Produktion in Drittländer aus und sorgte damit für Rekordgewinne bei den internationalen Konzernen. Menschenrechte, menschenwürdige Arbeitsbedingungen, Umweltstandards spielen in den produzierenden Ländern oft nur eine geringe oder überhaupt keine Rolle. Arbeitnehmer:innenvertretungen sowie Nichtregierungsorganisationen haben diese Situation oft kritisiert und eine entsprechende Berücksichtigung in der Handelspolitik gefordert. Zudem ist die Abhängigkeit von Drittländern bei der Versorgung von teils essenziellen Produkten wie Medikamenten und Rohstoffen über die Jahre immer weiter gestiegen. In der Pandemie wurde diese Abhängigkeit nun sehr deutlich und hat in manchen Bereichen zu Lieferengpässen geführt.

Erstmals reagiert die Europäische Kommission in dieser Legislaturperiode zumindest rhetorisch auf diese höchst problematische Politik. Spät, aber doch stellt die Kommissionspräsidentin fest, dass globaler Handel „nicht auf Kosten der Würde und der Freiheit der Menschen“ gehen darf, und will Produkte auf Märkten verbieten, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden. Wesentlich dabei wird wohl auch das lange erwartete Lieferkettengesetz sein, das unter anderem verbindliche Regeln zu den Menschenrechten enthalten soll. Bislang allerdings hat die Europäische Kommission eine schärfere Gesetzgebung bei den Sorgfaltspflichten auf die lange Bank geschoben.

Ansonsten hält von der Leyen leider am Globalisierungskonzept und ihren Liberalisierungsstrategien fest. So kündigt sie nun in der Rede den Aufbau von Global-Gateway-Partnerschaften an, die Investitionen in entsprechende Infrastrukturen beinhalten. Neben der Pflege der Bündnispartner wie den USA sollen auch Afrika und der Indopazifik stärker in den Fokus rücken. Zunehmende Zweifel lässt sie an autokratischen Regimen durchklingen, die ihren Einflussbereich ausweiten wollen. Sie benennt direkt Unternehmen und (Hafen-)Infrastruktur, die in chinesischem Eigentum stehen, und schließt an dieser Stelle mit den Worten: „Wir müssen bei derartigen Investitionen intelligenter vorgehen.“ Interessant ist in diesem Zusammenhang die Ankündigung, dass aufgrund der Bedeutung von Halbleitern bei vielen Produkten ein Schwerpunkt darauf gelegt werden soll, ein Chip-Ökosystem in Europa zu schaffen, das die Produktion miteinschließt. Denn derzeit ist laut Kommissionspräsidentin die EU von Hochleistungschips aus Asien abhängig.

Technologische Gefahren und die Sicherheitspolitik Europas

Zunehmend bedenklich stimmt schließlich der letzte Teil der Rede von Kommissionspräsidentin von der Leyen. Die Art der Bedrohungen, mit denen es die EU zu tun habe, ändere sich rasant. Es gebe hybride Angriffe, Cyberattacken und Wettrüsten im All. Es brauche lediglich einen Laptop, um ganze Infrastrukturen lahmzulegen oder Wahlen zu beeinflussen. Europa müsse gegen Cyber-Angriffe vorgehen und brauche eine gemeinsame Cyber-Sicherheitspolitik samt einem entsprechenden Rechtsrahmen. Tatsächlich steigt die Anzahl von Hackerangriffen stark an, auch in Österreich. Bereits 60 Prozent aller österreichischen Unternehmen wurden Opfer eines Cyberangriffs, davon die meisten mehrmals.

Es brauche auch schnelle Reaktionsmöglichkeiten bis hin zu EU-Interventionstruppen. Von der Leyen spricht sich daher für eine Europäische Verteidigungsunion aus und will in den nächsten Monaten zu einem Gipfel zur europäischen Verteidigung einladen.

Eine Rede, die einen nachdenklich zurücklässt

Dass sozial- und beschäftigungspolitische Themen, steuerpolitische Gerechtigkeit und die Bildungspolitik wesentlich stärker angesprochen werden als in den Jahren zuvor, ist definitiv positiv zu beurteilen. Sorgen bereiten hingegen die Aussagen von der Leyens zu den Entwicklungen im Klima- und Umweltbereich und weltpolitischen Themen wie der Handels- und Sicherheitspolitik. Sie zeigen, dass die vielen Krisen, die die Europäische Union in den letzten Jahren durchgemacht hat, nicht weniger geworden sind.

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