Primärversorgung muss Einzug in das österreichische Gesundheitssystem finden

15. September 2015

Kaum ein Anliegen wird so breit unterstützt, wie gute Gesundheitsversorgung. Primärversorgungs-Einrichtungen haben dabei für uns alle erhebliche Vorteile gegenüber den klassischen Einzelordinationen, wie z.B. längere Öffnungszeiten, auch an Tagesrandzeiten und Wochenenden; kontinuierliche Versorgung durch AllgemeinmedizinerInnen, aber auch die Betreuung durch Angehörige nichtärztlicher Gesundheitsberufe. Ein weiterer positiver Aspekt ist, dass die Zusammenarbeit mit beispielweise Apotheken, FachärztInnen, Krankenanstalten und Pflegeeinrichtungen, verstärkt werden soll. In Österreich steckt die Entwicklung der Primärversorgung jedoch erst in den Anfängen.

Was bedeutet Primärversorgung?

Die Primärversorgung wird im Gesetz als allgemeine direkt zugängliche erste Kontaktstelle für alle Menschen mit gesundheitlichen Problemen im Sinne einer umfassenden Grundversorgung definiert. Sie soll die Versorgung von kranken Menschen koordinieren und die ganzheitliche und kontinuierliche Betreuung durch die Zusammenarbeit von ÄrztInnen und Angehörigen anderer Gesundheitsberufe gewährleisten. Erzielt werden soll damit eine höhere Versorgungsqualität vor allem für Kinder- und Jugendliche, chronisch Kranke sowie die ältere Bevölkerung. Außerdem könnte mit der Primärversorgung dem derzeit ungesteuerten Zugang zu Spitalsambulanzen entgegengewirkt werden.

Es gibt internationale Vorbilder

Die Stärkung der Primärversorgung nach internationalem Vorbild (beispielsweise in England und Holland) ist ein zentrales Anliegen der Gesundheitsreform. Das österreichische Primärversorgungskonzept wurde bereits im Juni 2014 beschlossen, die Umsetzung schreitet jedoch nur sehr langsam voran.

Notwendige Gesetzesänderungen zur Umsetzung der Primärversorgung

Zum Schutz der bestehenden Einzelverträge der ÄrztInnen mit den Gebietskrankenkassen sind großzügige Übergangsregelungen notwendig. Niemand darf oder soll aus einem bestehenden Einzelvertrag „hinausgedrängt“ werden. Klar ist aber auch, dass die Entscheidung, in Österreich die Primärversorgung zu fördern, durch den Beschluss der Bundeszielsteuerungskommission  auf politischer Ebene aber bereits gefallen ist.

Um für ÄrztInnen und Pflegekräfte, aber auch die anderen im Team vorgesehenen Berufsgruppen, den Zusammenschluss zu Primärversorgungs-Einrichtungen vor allem in rechtlicher Hinsicht transparenter zu machen, sind klarere gesetzliche Regelungen in einer Reihe von Bereichen notwendig. Das betrifft Fragen der Rechtsform (zB Gruppenpraxis, selbstständiges Ambulatorium), die Regelung der vertraglichen Beziehung zwischen Primärversorgern und Kassen (Gesamtvertrag, Einzelvertrag) und die Honorierung der Leistung der einzelnen Berufsgruppen.

Auch die Rolle der gehobenen Gesundheits- und Krankenpflege im Rahmen der Primärversorgung muss definiert und die Kriterien für Vergabe von Einzelverträgen an Primärversorgungs-Einrichtungen transparent gemacht werden.  Zudem bedarf es einer Klärung der Rechtsfolgen bei Beendigung von Primärversorgungs-Einrichtungen bzw. –Netzwerken, wie auch der Frage, inwieweit ÄrztInnen, die als PrimärversorgerInnen tätig werden, auf den Stellenplan angerechnet werden und wie die Qualität der Leistungserbringung überprüft wird.

Und nicht zuletzt müsste dieses Konzept in der ÄrztInnenausbildung Niederschlag finden und auch die Rolle von Primärversorgungs-Einrichtungen als Lehrpraxen geregelt werden.

Die Grundfrage lautet:

Wie soll trotz einer großzügigen Übergangsregelung erreicht werden, dass die Primärversorgung im österreichischen Gesundheitssystem Fuß fassen kann? Und auch, dass diese in weiterer Folge ausgebaut wird und einen wachsenden Teil der Einzelpraxen ersetzt?

So wichtig neue gesetzliche Regelungen auch sind, entscheidend für die Weiterentwicklung der Primärversorgung ist die Bereitschaft der beteiligten Berufsgruppen, sich zu den gewünschten Einrichtungen zusammenzuschließen. Ebenso relevant ist die Bereitschaft der Spitalsträger und Kassen zur Etablierung der Primärversorgung in den eigenen Einrichtungen.

Nach wie vor ist zudem ungelöst, welche Rolle die nachgelagerten Versorgungsstufen künftig spielen sollen (das sind niedergelassene und spitalsambulante fachärztliche bzw. stationäre Versorgung). Insgesamt sind die Arbeitsteilung im Gesundheitswesen und – darauf beruhend – eine zielgerichtete PatientInnensteuerung wohl die größten Baustellen unseres Gesundheitssystems.

Es wird daher darum gehen, zunächst durch Best-Practice-Modelle die Vorteile der Primärversorgung für die Bevölkerung, vor allem aber auch für die betroffenen Berufsgruppen darzustellen. Sollten sich AllgemeinmedizinerInnen zu einer Primärversorgungseinrichtung zusammenschließen wollen, sollen sie jedenfalls Vorrang gegenüber einer Einzelpraxis genießen. Das sollte auch bei der Vergabe von Kassenverträgen entsprechend  berücksichtigt werden.

Primärversorgung in Wien – ein erstes Pilotprojekt

Hervorzuheben ist das erste Pilotprojekt in Wien „PHC Medizin Mariahilf“, das im Mai 2015 seine Tätigkeit aufgenommen hat und noch auf dem Boden des geltenden Rechts errichtet wurde. Bei diesem ersten Pilotprojekt handelt es sich um eine Gruppenpraxis von drei ÄrztInnen für Allgemeinmedizin, die mit Pflegepersonal und OrdinationsassistentInnen das „Kernteam“ des Primärversorgungszentrums bilden. Geplant ist eine Erweiterung dieser Einrichtung um eine/n vierte/n Mediziner/in sowie die Mitarbeit eines/r Sozialarbeiters/in und eines/r Psychotherapeuten/in. Nach diesem Vorbild sollten in Wien bis Ende 2016 mindestens fünf weitere Zentren eingerichtet werden, die durch ihre Vorbildwirkung die Umsetzung der Primärversorgung beschleunigen könnten.