Mindestsicherung statt Notstandshilfe: 100.000 zusätzliche Armutsgefährdete

20. Dezember 2018

Die Regierung plant, mit dem „Arbeitslosengeld neu“ den zeitlich unbegrenzt möglichen Notstandshilfebezug abzuschaffen. Sobald jemand künftig keinen Anspruch aus der Arbeitslosenversicherung mehr hat, bleibt damit – ähnlich dem deutschen Hartz-IV-Modell – nur mehr die Mindestsicherung als letztes soziales Netz übrig. Diese Kürzungen schmälern den Versicherungsschutz bei Arbeitslosigkeit für die Betroffenen, und es kommt zu drastischen Einkommensverlusten, da viele NotstandshilfebezieherInnen – sogar ohne Vermögensverwertung – gar keinen Anspruch auf Mindestsicherung hätten. Durch die Abschaffung der Notstandshilfe wären etwa 100.000 Personen zusätzlich armutsgefährdet.

Bereits im April 2017 und damit noch unter der Vorgängerregierung wurde eine Studie zur Umlegung der Hartz-IV-Reform auf Österreich im Auftrag des Finanzressorts öffentlich. Diese simulierte eine Abschaffung der Notstandshilfe, die durch verschiedene Mindestsicherungsregelungen (z. B. mit/ohne Deckelung) ersetzt wurde, und stellte die fiskalischen Wirkungen, die Änderung der Anzahl der Bezugsberechtigten sowie der zusätzlichen Armutsgefährdeten dar. Im Auftrag der Arbeiterkammer Wien führte das Europäische Zentrum für Wohlfahrtspolitik nun eine weitere Simulationsrechnung mit dem neuen Vorschlag der Regierung zur Mindestsicherung durch, der zusätzliche Kürzungen insbesondere bei Mehrkindfamilien vorsieht. Dabei wurden zwei verschiedene Varianten simuliert: ohne (Variante 1) und mit Vermögenstest (Variante 2). In der ersten Variante wird die Notstandshilfe durch die geplante Mindestsicherung ersetzt, unabhängig davon, ob der betroffene Haushalt Vermögen hat oder nicht. Erst in der zweiten Variante wird auch die Vermögensverwertung miteinbezogen.

Hälfte der NotstandshilfebezieherInnen ohne Anspruch auf Mindestsicherung

Ein zentraler Kritikpunkt in der öffentlichen Debatte bezieht sich zu Recht auf die drohenden Verschlechterungen im Vergleich zur Notstandshilfe durch die Vermögensverwertung bei der Mindestsicherung. Auf weitere wesentliche Unterschiede im Leistungsniveau zwischen der Versicherungsleistung auf der einen und der Fürsorgeleistung auf der anderen Seite wird selten eingegangen. Mithilfe der Simulationen wird aber deutlich, wie groß diese sind. Bereits ohne Vermögensverwertung (Variante 1) hätten etwa 45% aller im Jahr 2015 anspruchsberechtigten NotstandshilfebezieherInnen keinen Anspruch auf Mindestsicherung. Von den drohenden Kürzungen wären alle Altersgruppen stark betroffen. Wird die Vermögensverwertung in die Simulation mit einbezogen (Variante 2), sinkt die Anzahl der Anspruchsberechtigten, wobei der weitere Rückgang durch die Einbeziehung der Vermögen vergleichsweise gering ist. Personen über 50 wären von der Vermögensverwertung am stärksten betroffen. Hier wird deutlich, dass die meisten Arbeitslosen ohnehin über kein relevantes Vermögen verfügen. Für jene, die sich über Jahrzehnte mühsam etwas aufgebaut haben, spielt die Vermögensverwertung hingegen eine Rolle.

Anspruchsberechtigte NotstandshilfebezierInnen nach Altersgruppen © A&W Blog
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100.000 Personen wären zusätzlich armutsgefährdet

Die Abschaffung der Notstandshilfe trifft aber nicht nur die BezieherInnen selbst, sondern auch PartnerInnen und insbesondere deren Kinder. Insgesamt lebten im Jahr 2015 über 700.000 Personen – darunter über 170.000 Kinder – in einem Haushalt, in dem zumindest eine Person ein Einkommen – wenn auch nur vorübergehend – aus der Notstandshilfe erhielt. Das entspricht 9 % der Gesamtbevölkerung und verdeutlicht, wie viele Personen potenziell von einer geplanten Abschaffung bedroht wären. Durch die geplante Kürzung wären insgesamt etwa 100.000 Personen zusätzlich armutsgefährdet.

Armutsgefährdete Personen © A&W Blog
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Woher kommen die Unterschiede zwischen Mindestsicherung und Notstandshilfe?

Die Bedarfsorientierte Mindestsicherung ist im Unterschied zur Notstandshilfe eine sogenannte Fürsorgeleistung. Sie ist nicht von erworbenen Versicherungszeiten abhängig und zielt darauf ab, dass für in Österreich lebende Menschen ein Mindesteinkommen zum Überleben gewährleistet ist.

Der Anspruch auf Mindestsicherung hängt vom gesamten Einkommen der sogenannten Bedarfsgemeinschaft ab. Dazu gehören nicht nur PartnerInnen und Kinder im gemeinsamen Haushalt, sondern auch Wohngemeinschaften, die nur zum Zweck von geteilten Wohnkosten gebildet werden. Jegliches Einkommen – von anderen Transferleistungen (mit wenigen Ausnahmen) bis zu Zuverdiensten aus Erwerbsarbeit – wird von der Mindestsicherung abgezogen.

Demgegenüber hängt der Anspruch auf Notstandshilfe von dem davor erworbenen Arbeitslosenbezug ab. Geringfügige Einkommen sowie bestimmte Transferleistungen können grundsätzlich zusätzlich bezogen werden. Einkommen von anderen Personen des Haushalts (vor allem seit Abschaffung der Anrechnung des PartnerInneneinkommens) verringern den Bezug nicht.

Dennoch kann die Notstandshilfe von vielen Gruppen nicht, wie fälschlicherweise oft dargestellt, unbefristet in gleichbleibender Höhe bezogen werden. Vielmehr wirkt sie in gewissen Fällen stark degressiv. Beispielsweise wird die Notstandshilfe auf den Ausgleichszulagenrichtsatz (€ 933,06) gedeckelt, wenn zuvor für 20 Wochen Arbeitslosengeld bezogen wurde.

Der Unterschied zur Mindestsicherung liegt also oft vor allem im Umgang mit der Anrechenbarkeit von Zuverdiensten bis zur Geringfügigkeitsgrenze (€ 446,81 monatlich im Jahr 2019), der Möglichkeit zum Bezug von anderen Transferleistungen und in völlig unterschiedlichen Konzepten bei der Anspruchsprüfung im Hinblick auf die Bedarfsgemeinschaft.

Fiktives Beispiel

Da die Regelungen im Detail für die Notstandshilfe und für die Mindestsicherung sehr kompliziert sind, wollen wir anhand eines fiktiven Beispiels die Unterschiede verdeutlichen.

Barbara, 38 Jahre, verliert ihren Job, nachdem sie über 16 Jahre als Verkäuferin in einem Modegeschäft erwerbstätig war. Sie lebt mit ihrem Ehepartner in einem gemeinsamen Haushalt und hat zwei Kinder im Alter von acht und zwölf Jahren. Weil sie 16 Jahre in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hatte, bekam sie für 30 Wochen knapp € 1.000 Arbeitslosengeld, im Anschluss Notstandshilfe in Höhe von € 950. Das Einkommen ihres Ehepartners wurde (auch vor Juli 2018) nicht angerechnet. Er verdient netto € 1.500. Aufgrund der geltend gemachten Freigrenzen für die beiden Kinder sowie für einen Kredit zur Beschaffung und Aufrechterhaltung des Wohnraums bleiben ihr die € 950 Notstandshilfe zur Gänze.

Barbara findet trotz intensiver Suche keinen neuen Vollzeitjob, aber zumindest eine geringfügige Beschäftigung an Samstagen im Supermarkt. Sie verdient dabei € 430. Das liegt unter der Geringfügigkeitsgrenze und hat somit keinen Einfluss auf die Notstandshilfe. Insgesamt bleibt der Familie somit € 2.593 (950 + 430 + 1.500 + 213 Familienbeihilfe – 500 Raten für den Kredit) im Monat zum Leben.

Würde die Notstandshilfe durch die Mindestsicherung ersetzt, dann würde das Einkommen des Ehemannes sowie das geringfügige Einkommen von Barbara berücksichtigt werden. Barbara hätte keinen Anspruch auf Mindestsicherung. Sie und ihre Familie müssten monatlich mit € 950 weniger auskommen.

Fazit

Die Abschaffung der Notstandshilfe führt dazu, dass unzählige Menschen Einkommen verlieren, weil sie keinen Anspruch auf Mindestsicherung haben. Deutlich mehr Armut und damit verbunden schlechtere Gesundheit, Perspektivenlosigkeit bis hin zu sinkendem gesellschaftlichem Zusammenhalt wären die Folgen.

Bei der geplanten Kürzung handelt es sich um drastische Einschnitte in die Versicherungsleistung, die alle Erwerbstätigen vor dem Risiko der Arbeitslosigkeit schützen soll. Damit wird der ohnehin bereits hohe Druck auf Arbeitslose weiter erhöht, was sich auch in niedrigeren Löhnen für die Beschäftigten niederschlägt.