Maßnahmen gegen die soziale Ungleichheit von Kindern

09. September 2021

Bei der weit verbreiteten Kinderarmut handelt es sich um den erschreckendsten Teil eines anderen Problems hochentwickelter kapitalistischer Länder: der sozialen (Kinder-)Ungleichheit. Armut wird in aller Regel durch strukturelle Gegebenheiten, nicht durch persönliches Versagen hervorgerufen. Es gilt also nicht, das Verhalten der Kinder oder ihrer Eltern, sondern die bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu ändern. Weil die Ungleichheit nicht monokausal zu begreifen ist, sondern vielfache Ursachen hat, ist sie auch nur mehrdimensional zu bekämpfen.

Bekämpfung der Armut von Kindern fängt beim Lohn ihrer Eltern an

Soziale Kinderungleichheit erwächst aus einer Ungleichverteilung der Ressourcen von Haushalten mit Kindern, die maßgeblich vom Erwerbseinkommen der Eltern(teile) bestimmt wird. Deshalb fängt die Bekämpfung der Kinderarmut im Erwerbsleben an. Da Kinderarmut fast immer auf Eltern- oder Mütterarmut zurückzuführen ist, die aus einer exkludierten oder Randstellung am Arbeitsmarkt resultiert, konzentrieren sich Erfolg versprechende Gegenstrategien auf Maßnahmen, welche nicht armutsfeste Löhne und Gehälter so anheben, dass man „von Arbeit leben“ und Kinder ernähren, fördern, teilhaben lassen und sozial absichern kann.

Nur durch einen Lohn in existenzsichernder Höhe lässt sich ein breiter Niedriglohnsektor, wie er in Deutschland existiert, zurückdrängen. Damit er seine Wirkung als Instrument zur Armutsbekämpfung entfalten kann, sollte der Mindestlohn nach angloamerikanischem Vorbild zu einem „Lebenslohn“ (living wage) weiterentwickelt werden, der nicht bloß die Existenz, sondern auch die Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben ermöglicht. Als mögliche Untergrenze gilt die in der Europäischen Union geltende Armutsgefährdungsschwelle von 60 Prozent des Medianeinkommens.

Ein inklusiver Sozialstaat für die Familien

Neben dem Ansatz, über Löhne steuernd einzugreifen, sind weitere umverteilende Maßnahmen notwendig, um die sozioökonomische Kinderungleichheit zu reduzieren. Wesentlicher Hebel dafür ist ein inklusiver Sozialstaat. Auf dem Weg dorthin müssen arme Familien wirksamer unterstützt und ihre Kinder mehr gefördert werden. Die bedürftigen Familien brauchen sowohl mehr Geld, weil Einkommensdefizite der Grund für ihre Transferabhängigkeit sind, wie auch eine soziale, Bildungs-, Betreuungs- und Beratungsinfrastruktur, die ihren Kindern ein gutes Aufwachsen ermöglicht. Finanzielle Zuwendungen an Familien oder Kinder und infrastrukturelle Hilfen können einander sinnvoll ergänzen. Die wachsende Ungleichheit der Lebensbedingungen und Bildungschancen junger Menschen macht es dringend erforderlich, sowohl in der Bildungspolitik als auch im Bereich der kinder-, jugend- und familienbezogenen Infrastrukturpolitik umzudenken. Es geht dabei um Strategien, die zwar der Benachteiligung armer Bevölkerungsgruppen gezielter entgegenwirken, zugleich aber allen Minderjährigen zugutekommen.

Um ein höheres Maß an Chancengleichheit zu verwirklichen, ist der freie Zugang zu sämtlichen Bildungseinrichtungen unabdingbar, was wiederum die Bereitstellung materieller Ressourcen für Familien voraussetzt, die darüber nicht selbst verfügen. Statt alle Eltern materiell besser zu stellen, müssen ökonomisch benachteiligte Kinder stärker gefördert werden. Hierbei sollte ihre Unterstützung unabhängig von der Familienform wie von der Erwerbsbiografie der Eltern erfolgen.

Fokus auf eine attraktive kinder-, jugend- und familienbezogene Infrastruktur

Nur wenn genügend gut ausgestattete Kindertageseinrichtungen, Schulen und ausreichend außerschulische Freizeitangebote insbesondere dort vorhanden sind, wo ökonomisch benachteiligte Minderjährige sie auch benötigen, kann verhindert werden, dass ein größerer Teil der jungen Generation abgehängt und perspektivlos wird. Solche Freizeitangebote können das öffentliche Hallen- oder Freibad, Spielplätze, Sportanlagen und Jugendeinrichtungen wie Offene Türen, Museen oder Tierparks sein. Die geografische Nähe und Kostenfaktoren sind entscheidend: Sobald Eintrittsgelder oder Fahrkarten für den Öffentlichen Verkehr erforderlich sind, bleibt ein Teil der AdressatInnen von der Teilhabe ausgeschlossen.

Angeboten der durchkommerzialisierten Kinder- und Jugendfreizeit für kaufkräftige Minderjährige ist eine öffentlich finanzierte (kostenfreie), gut ausgestattete und attraktive kinder-, jugend- und familienbezogene Infrastruktur entgegenzusetzen. Ob dies flächendeckend geschieht – was wünschenswert wäre – oder Ressourcen hierfür vorrangig in jene Stadtteile, Orte und Regionen gelenkt werden, wo sie junge Menschen aufgrund fehlender familiärer Ressourcen besonders benötigen, ist auch eine Frage der finanziellen Spielräume der öffentlichen Hand. Sicher braucht nicht jedes Villenviertel ein Museum, ein öffentliches Schwimmbad oder einen öffentlichen Fitnessparcours; umso mehr benötigen aber die Heranwachsenden in Gebieten mit Armutskonzentration und segregierten Wohnvierteln phantasievolle Spielplätze, Jugendzentren und Freiflächen für Jugendliche mit freiem WLAN sowie gute Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen, aber auch Anlauf- und Unterstützungsstellen für die Familien.

Wer die Armut verringern will, muss den Reichtum antasten

Wer die soziale Ungleichheit verringern und zugleich verhindern will, dass die Gesellschaft noch tiefer als bisher gespalten wird, muss den Reichtum antasten, weil Armutsbekämpfung viel Geld kostet und weil beide Phänomene strukturell miteinander verzahnt sind. Armutsbekämpfung ist nicht umsonst zu haben: Um die Handicaps der Kinder aus ökonomisch benachteiligten Familien im Wohn-, Bildungs-, Gesundheits-, Sport- und Freizeitbereich ausgleichen zu können, sind erhebliche finanzielle Mittel erforderlich. Mit einer politischen Priorität auf einen „abgemagerten“ Staat, der die Kapital- und Gewinnsteuern weiter senkt und sich zuvorderst der Nichtverschuldung verschreibt, wird dies nicht zu machen sein.

Während der Covid-19-Pandemie hat die Staatstätigkeit zur Genüge bewiesen, welch überragende Bedeutung der Sozialstaat für das Wohl und Wehe der Gesellschaft hat. Verteilungspolitisch wird ganz entscheidend sein, wer am Ende der Covid-19-Pandemie die Zeche zahlt, sprich: welche Bevölkerungsgruppen die exorbitanten Kosten der staatlichen Rettungsschirme, Überbrückungshilfen und Förderprogramme tragen müssen. Die wirtschaftlichen Verwerfungen der Covid-19-Pandemie gehen mit wachsendem Wohlstand und vermehrtem Reichtum mancher einher, ja bilden geradezu deren Kehrseite, während der Staat durch ihre riesigen Kosten finanziell enorm belastet ist. Gerade deshalb muss die (Kinder-)Ungleichheit durch konsistente und miteinander kompatible Maßnahmen einer Umverteilung von oben nach unten zurückgedrängt und für zusätzliche Steuereinnahmen gesorgt werden.

Armut darf gar nicht erst entstehen!

Zwar lässt sich der Kapitalismus mit steuerpolitischen Maßnahmen nicht abschaffen, aber es ist durchaus möglich, mehr Gerechtigkeit auf diesem Weg schaffen. Solange sich die Ungleichheit im bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem permanent reproduziert, muss darüber hinaus die Frage erlaubt sein, wie durch Staatseingriffe unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit dafür gesorgt werden kann, dass Armut, statt nachträglich verringert zu werden, erst gar nicht entsteht. Wenn die sozioökonomische Ungleichheit ein strukturelles, d. h. ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, kann sie nur durch tiefgreifende Strukturveränderungen beseitigt werden. Denn es geht um die Zukunft junger Menschen in einer wohlhabenden Gesellschaft der Gleichheit, die ihnen ausnahmslos ein glückliches Leben ohne materielle Sorgen und ohne Diskriminierung wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihres Aussehens, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität ermöglicht.

Die AutorInnen, Carolin und Christoph Butterwegge, haben kürzlich ihr Buch „Kinder der Ungleichheit“ im Campus Verlag veröffentlicht.

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