Lohndrückerei und Arbeitskampf

28. September 2015

Die Lohn- und Arbeitszeit-Auseinandersetzungen spitzen sich zu. Die Unternehmensvertretung aus dem Bereich Maschinen / Metallwaren verweigert erpresserisch die Aufnahme von Kollektivvertragsverhandlungen, da ihr geplante Regierungsmaßnahmen nicht passen. Und generell wittert so manch Firmenboss oder KapitalvertreterIn aktuell Potential für Lohndrückerei. So sollen jene, die wegen Krieg und wirtschaftlicher Not als Flüchtlinge in Deutschland, Österreich und anderen EU-Ländern ankommen, durchaus hier arbeiten – allerdings zum Niedrigst-Tarif. Dabei drückt sich der durch Prekarisierung und Arbeitslosigkeit verstärkte Trend der ungleicher werdenden Einkommensverteilung ohnedies schon in einer langfristig sinkenden Lohnquote aus. Wäre der Lohn- und Gehaltsanteil der Lohnabhängigen in Österreich auf dem Niveau von Ende der 1970er Jahre, wären 2014 drei Wochen mehr Urlaub für jeden möglich gewesen.

Wirtschaft lechzt nach Billigproletariat

Wer vor Terror und Krieg flieht, hat besondere Sensibilität und Betreuung verdient. Das erfordert Zeit und Geld. Doch Wirtschaftsbosse haben die rasche, gewinnmaximierende Ausbeutung der Arbeitskraft von Flüchtenden im Blick: Wer sein komplettes Leben zurücklasse, sei hoch motiviert, so der Daimler- Chef Zetsche, der „genau solche Menschen“ sucht. Während er die leichtere Erpressbarkeit dieser Gruppe noch versucht, euphemistisch in Motivation umzubenennen, reden andere gleich Klartext. Der viel zitierte Prof. Sinn konstruiert einen Sachzwang, wonach der eben erst eingeführte, ohnedies löchrige, gesetzliche Mindestlohn in Deutschland gesenkt werden müsse, um die neuen Arbeitskräfte in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren. Der lohndrückerischen Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt. So schlagen deutsche CDU-PolitkerInnen vor, dass für Flüchtlinge drei Monate lang kein Mindestlohn gelten soll.

In Österreich – wo während des Asylverfahrens ein Arbeitsverbot besteht und im besten Fall nach drei Monaten Aufenthalt eine Saisonarbeit in der Landwirtschaft und im Tourismus aufgenommen werden kann – wird die Debatte dahingehend verhaltener geführt. Ein erleichterter Zugang zum Arbeitsmarkt der Asylsuchenden Menschen „würde sich für alle lohnen“, sagt auch die österreichische Gewerkschaft vida, „aber nur zu fairen und humanen Bedingungen und nicht, um billige Arbeitskräfte zu bekommen“. Flüchtlinge dürfen nicht als Billigarbeitskräfte ausgebeutet werden – es müssen für alle die gleichen Bedingungen gelten, die der Kollektivvertrag vorsieht. Und es braucht Sprachkurse, Ausbildungsoptionen etc. Mindestlohn und generell Kollektivverträge sollen „Einheimische“ genauso wie Flüchtlinge vor Ausbeutung schützen. Wird dieses Schutzprinzip aufgeweicht, dann kommt es zu einem zerstörerischen Unterbietungswettkampf, in dem jede/r verliert – die lohnabhängig Beschäftigten, aber auch die Unternehmen, die dann unfairer Billigkonkurrenz ausgesetzt sind.

Die Lohnquote – Verteilung, erster Teil …

Je schlechter die Konjunkturlage, umso schlechter die Arbeitsmarktsituation. Je höher die Arbeitslosigkeit und ausgeprägter a-typische Arbeitsformen, umso schwerer haben es Gewerkschaften, einen hohen kollektivvertraglichen Standard zu erreichen. Je schwächer die gewerkschaftliche Verhandlungsposition, umso niedriger fällt das jährliche Lohnplus aus. Ist die gesamtgesellschaftliche Situation wie derzeit sehr fragil, boykottiert die österreichische Metallindustrie einfach mal die – hierzulande sonst meist am grünen Tisch geführten – Kollektivvertragsverhandlungen. Kann sie sich durchsetzen, verschlechtert sich das Verteilungsergebnis, das sich auch durch die Lohnquote messen lässt:

Dazu werden die gesamten Arbeitsentgelte, die die lohnabhängig Beschäftigten im Zuge des Arbeitsprozesses erhalten, plus die damit zusammenhängenden Sozialversicherungsbeiträge (DienstnehmerInnen- und DienstgeberInnenbeiträge) ins Verhältnis zur gesamten im Laufe eines Jahres erschaffenen Wertschöpfung gesetzt. Die Lohnquote zeigt, wie sich das im Inland produzierte Volkseinkommen auf Arbeit einerseits und Kapital bzw. Besitz andererseits verteilt. Es ist so was wie eine Ausgangsbasis, eine „Erst-Verteilung“ (im Fachjargon auch „Primärverteilung“), für das, was im Endergebnis den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zur Verfügung steht. Lohnquote und Gewinn- bzw. Besitzeinkommensquote summieren sich natürlich jedes Jahr auf 100 Prozent. 2014 konnten die Lohnabhängigen rund 69 Prozent, das waren 159 Milliarden Euro an Brutto-Arbeitsentgelten inklusive der gesamten Sozialversicherungsbeiträge, „für sich“ beanspruchen.

Lohnquote in Österreich

Die restlichen rund 31 Prozent, die verteilt werden, sind die Gewinne der Unternehmen (wobei hier schon die Abschreibungen, welche den Unternehmen als Teil des Cash Flows zur Verfügung stehen, in Abzug gebracht sind), das Einkommen der Selbständigen sowie Erträge aus Finanz- und Immobilienbesitz. Und diese Nicht-Lohneinkommen wachsen seit geraumer Zeit im Trend schneller als die Löhne (siehe dazu auch Chaloupek/Russinger/Zuckerstätter). Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene betrachtet profitieren ArbeitnehmerInnen von diesen leistungslosen Finanz- bzw. Besitzeinkommen per Saldo nicht, da sowohl der gesamte Finanzvermögensbesitz als auch der gesamte Immobilienbesitz auf wenige Besitzende extrem konzentriert sind und daher die überproportionalen Zuwächse der Vermögenseinkommen auch nur einer kleinen Besitzelite zukommen (siehe Studie WU).

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Der Lohnanteil sinkt nicht etwa, weil es anteilsmäßig weniger lohnabhängig Beschäftigte gäbe (sie machen seit Jahrzehnten knapp 90 Prozent aller Erwerbstätigen aus), sondern aus den oben angeführten Gründen. Auffällig sind die Ausschläge nach oben in wirtschaftlichen Schwäche- bzw. Krisenphasen (Rezessionen, wo die jährliche Wirtschaftsleistung, das Bruttoinlandsprodukt (BIP), real sinkt, bzw. Stagnationen, wo das BIP nicht wächst). Das liegt daran, dass die meisten Arbeitsverträge längerfristiger gelten, und daher in einem wirtschaftlichen Abschwung die – vertraglich fixierten – Löhne nicht im gleichen Ausmaß wie das Produktionsvolumen sinken und auch Gewerkschaften eine stabilisierende lohnpolitische Rolle ausüben.

Internationaler Lohnquoten-Wettlauf nach unten

Der langfristige, tendenzielle Lohnquoten-Rückgang ist kein österreichisches Spezifikum, sondern ein international beobachtbares Phänomen:

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Der im globalen Wettlauf nach unten moderat wirkende Rückgang in Großbritannien dürfte sich aus dem dortigen starken Anstieg bei den Top-Managergehältern erklären, die als Arbeitsentgelte gerechnet werden. Der international rückläufige Lohnanteil stellt auch ein gesamtwirtschaftliches Problem dar, da dadurch die Gesamtnachfrage nach den hergestellten Gütern und Dienstleistungen sinkt. Unzureichende Lohnentwicklung schwächt den Konsum der privaten Haushalte, was die Absatzmöglichkeiten für Konsumgüter reduziert. Da dies nicht durch einen Anstieg bei den Investitionen (Nachfrage nach Investitionsgütern) oder den Netto-Exporten ausgeglichen wird, wird das Wirtschaftswachstum – das gilt insbesondere für Europa mit seinem starken Binnenhandel – beeinträchtigt (siehe dazu auch Feigl).

Drei Wochen mehr Urlaub

Die Arbeiterkammer OÖ hat berechnet, dass es ohne die bei den Lohnabhängigen in den letzten Jahrzehnten entstandenen Verteilungsverluste in Österreich heuer um drei Wochen mehr Urlaub geben könnte: Wäre die Lohnquote 2014 genauso hoch wie noch vor 20 Jahren – hätte sich also die Verteilung zwischen Gewinn- und Besitzeinkommen einerseits und Lohneinkommen andererseits nicht verschlechtert –, dann hätten die Unternehmen 2014 pro Arbeitnehmer/-in im Schnitt rund 3300 Euro mehr zahlen müssen (gesamte Arbeitskosten). In Summe hätten die Arbeitnehmer/-innen also ein deutlich größeres, milliardenschweres Stück vom gemeinsam gebackenen Kuchen erhalten. Statt mehr Lohn hätte auch der Urlaub ausgeweitet werden können. Bei einem Stundenlohn inklusive Arbeitgeber-Sozialversicherung von rund 28 Euro wären das 118 zusätzliche Stunden oder rund drei Wochen Urlaub mehr im Jahr.

Wäre die Lohnquote nicht gesunken, sondern gleich geblieben, dann gäbe es auch höhere Beitragseinnahmen in der Pensionsversicherung, wodurch der Bund viel weniger Mittel zur Pensionsversicherung zuschießen müsste (siehe dazu auch Gruber). Somit sind wir schon bei der …

… „Um- bzw. Rück-Verteilung“ – Verteilung, zweiter Teil

Ausgehend vom erwirtschafteten Volkseinkommen findet – in jeder Gesellschaft – die Um-Verteilung (von den Erwerbstätigen, die die Werte erwirtschaften, hin zu allen anderen Bevölkerungsgruppen: Kinder, Kranken, PensionistInnen…) statt. Wie geht das? Vom gesamten erwirtschafteten Einkommen werden (direkte) Steuern und Abgaben eingehoben. „Indirekte“ Steuern, wie die Mehrwertsteuer oder Mineralöl-Steuer, werden vom Unternehmen gezahlt, wobei die KonsumentInnen die um die Steuer erhöhten Preise tragen. Im Wesentlichen werden daraus die Sozialtransfers, die Pensionen der PensionistInnen, die Spitäler, die Schulen, alle öffentlichen Aufgaben, aber auch Bankrenrettungspakete etc. finanziert (neben der Finanzierung durch Steuern und Abgaben gibt es auch noch andere Einnahmequellen der öffentlichen Hand: Gebühren, Erlöse aus eigener Produktion und Kredite).

Gesamtwirtschaftlich gibt es immer nur ein „Umlageverfahren“ – das aktuell Erarbeitete wird auf die aktuellen Bedarfe „umgelegt“. Jede Sozialleistung muss immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden. Es gibt gar keine andere Quelle. Aber die Ansprüche auf den gemeinsam erarbeiteten Wohlstand sind unterschiedlich gelagert. Worauf es ankommt, ist, dass dieser Wohlstand gerecht verteilt wird. Durch die staatliche Um- bzw. Rückverteilung ergibt sich sozusagen eine „Zweit-Verteilung“ (im Fachjargon auch „Sekundärverteilung“), welche die Schieflage der „Erst“-Verteilung ausgleichen könnte. Aber wegen des – international – stattgefundenen Sozialabbaus werden diese positiven Umverteilungswirkungen geringer (siehe Förster, Folie 15).

EU-weite Lohndrückerei

Häufig wird argumentiert, dass der technologische Fortschritt und die Globalisierung zu mehr Einkommensungleichheit führen (weil insbesondere die Geringqualifizierten unter Lohndruck kommen). Doch die Hauptursache für die sinkende Lohnquote sind der Rückgang der gewerkschaftlichen Lohnverhandlungsmacht, Einschnitte im Wohlfahrtsstaat und die finanzkapitalistische Entwicklung („Finanzialisierung“), wie etwa Önaran/Stockkammer analysieren. Diese Entwicklungen wurden in der Krisensituation noch massiv verschärft, indem etwa die aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank (EZB) und EU-Kommission bestehende „Troika“ mehreren Ländern, teils in neoliberaler Komplizenschaft mit deren Regierungen, „Vereinbarungen“ (sogenannte „Memoranda of Understanding“) aufoktroyiert hat, welche z.B. zu einer Verlagerung der Kollektivertragsverhandlungen auf die betriebliche Ebene verpflichten oder eine drastische Einsparung von Krankenhäusern vorsehen. Dadurch griff die EU-Kommission unverhältnismäßig in Grundrechte wie jenes auf Tarifautonomie und Gesundheit ein, wie ein Gutachten festgestellt hat.

Und schon droht der nächste Wettbewerbsfähigkeitssteigerung-durch-Lohnkostensenkung-und Sozialabbau-Streich. Die fünf Präsidenten auf EU-Ebene (von der Kommission bis zum EU-Parlament) wollen die Wirtschafts- und Währungsunion u.a. dadurch „vollenden“, dass in jedem Staat künftig „unabhängige“ Einrichtungen den Kollektivvertragsparteien eine Richtschnur vorgeben sollen. Dies wird von Arbeiterkammer und Gewerkschaft stark kritisiert bzw. abgelehnt, da dadurch massive Eingriffe in die Lohnverhandlungen drohen.

Gewerkschaftliche Antwort: der Arbeitskampf

Um den tendenziell sinkenden Lohnanteil zu stoppen, braucht es international eine Umkehr dieser Prozesse, es braucht Maßnahmen, die die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften und den kollektivvertraglichen Abdeckungsgrad erhöhen, ausreichend hohe Mindestlöhne ermöglichen, und zugleich eine Wirtschaftspolitik, die öffentliche Güter und den Sozialstaat zurückbringen sowie den Finanzmarkt regulieren, wie Stockhammer und Önaran fordern.

Der enormen Marktmacht großer Konzerne, „dieser Gewalt des Eigentums“, kann die Gewerkschaft nur „die kollektive Kraft der organisierten Arbeit“ entgegenstellen, so Frank Bsirkse, der Chef der deutschen Dienstleistungsgesellschaft ver.di, anlässlich des Ende September 2015 in Deutschland stattgefundenen Arbeitskampfs der streikenden Amazon-Beschäftigten für einen ihnen bisher verwehrten angemessenen Tarifvertrag. Den aktuellen Boykott der Lohnverhandlungen in Österreich durch die Unternehmensinteressensvertretung werden die österreichische Produktions- und Angestelltengewerkschaften GPA-djp und PROGE nicht hinnehmen und diesen Erpressungsversuch nötigenfalls mit „gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen in der gesamten Metallindustrie“ beantworten. Wie schon Pete Seeger sang: we shall not be moved!