Italien, EU, Regierung und Gewerkschaften – (k)ein Verhältnis?

30. Oktober 2018

Italien hat seine Regierung wieder! Auf insgesamt 64 Regierungen bringt es das Land in 72 Jahren. Seit 1. Juni 2018 regiert eine Koalition zwischen der Fünf-Sterne-Bewegung (MoVimento 5 Stelle, M5s) und der Lega Nord. Ihr gemeinsamer Nenner ist das jeweilige Selbstbewusstsein: „Siamo giovani e belli“ – wir sind jung und schön – so der Leitspruch von M5s. Das Bündnis der Anti-Establishment-Partei M5s und der rechtspopulistischen Lega Nord ist ein Novum: Erstmals könnte ein EU-Gründerstaat auf Distanz zur Staatengemeinschaft gehen.

Bei der Wahl am 4. März 2018 erhielt die M5s 32 Prozent der Stimmen, die Lega Nord 17 Prozent. Die Wählerschaft beider Parteien ist äußerst heterogen: Die Lega ist vor allem im Norden stark und rechts gerichtet. M5s hat im armen Süditalien besonders viele AnhängerInnen. Der Koalitionsvertrag mit dem Titel „Vertrag für die Regierung des Wandels“ macht klar: Beide Parteien zählen sich nicht zum Establishment und sehen sich als Garant für den Richtungswechsel.

Das Verhältnis zwischen den Gewerkschaften und Regierungen

Die drei großen Gewerkschaftsdachverbände Italiens sind CGIL, CISL und UIL mit insgesamt elf bis zwölf Millionen Mitgliedern bei rund 22,3 Millionen unselbstständig Beschäftigten. Das Wahlergebnis 2018, das zur Ablösung der Regierung der sozialdemokratischen „Partito Democratico“ unter Matteo Renzi führte, wird von der CGIL, der größten Gewerkschaft, als Beweis für die Entfernung der traditionellen Parteien von den BürgerInnen gewertet. Als „rottamatore“ („Verschrotter“) der alten Eliten lehnte Renzi eine Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften ab. Er trieb die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mit dem „Jobs Act“ seit 2014 voran, der vor allem prekäre Arbeitsverhältnisse legalisierte. Während das Gesetz vom Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und Europäischen Zentralbank begrüßt wurde, lehnte es M5s als verfassungswidrig ab. Die drei Dachgewerkschaften organisierten einen Generalstreik dagegen.

Von vielen Mitgliedern der CGIL wird M5s als neue Linke Italiens eingestuft. Zehn Prozent der Mitglieder der CGIL wählten die Lega Nord, 33 Prozent entschieden sich nicht für die PD, sondern für M5s, die der zunehmenden Verelendung durch Altersarmut, prekäre Arbeitsverhältnisse und Jugendarbeitslosigkeit den Kampf ansagte. Der gewerkschaftlichen Sympathie schlägt jedoch Misstrauen seitens M5s entgegen: Die Bewegung sieht die Gewerkschaften als Teil des linken Establishments. Di Maio, Parteichef von M5s, sandte die Botschaft: „Mit uns als Regierung reformieren sich die Gewerkschaften entweder selbst oder wir werden sie zu einer Reform bewegen.“

Das Gewicht des Alters

Während es M5s gelang, die typischen „ArbeiterInnen“ ebenso wie die Jugend in prekären Arbeitsverhältnissen zu mobilisieren, stehen alle drei Gewerkschaften vor dem Problem des „Gewichts der PensionistInnen“. Mehr als eins von zwei Mitgliedern der CGIL ist PensionistIn, bei der CISL mehr als zwei von fünf Mitgliedern und bei der UIL mehr als eins von fünf Mitgliedern. Die Mitgliedschaft der Personen unter 35 Jahren beläuft sich bei CGIL auf 19 Prozent, bei der CISL auf 16 Prozent und die UIL zeigt ein ähnliches Bild.

Das spiegelt sich in der politischen Ordnung wider: Italien ist ein Sozialstaat für die Alten. Mehr als 70 Prozent der Sozialausgaben zielen auf Personen über 55 Jahre ab. Das Konzept der direkten Demokratie und der digitalen Mobilisierung von M5s erreicht hingegen sowohl die „Abgehängten“ auf regionaler Ebene als auch die neuen „ArbeiterInnen“ der „Gig-Ökonomie“, der digitalisierten Welt.

Somit steht den italienischen Gewerkschaften eine Herkulesaufgabe bevor: Sie müssen eine Sprache zu einer Regierungspartei finden, die zwar ihre Anliegen vertritt, die sie aber nicht als Bündnispartner sieht. Und sie müssen neue Mitglieder rekrutieren, in einer Gesellschaft geprägt von Strukturwandel und zunehmender Individualisierung des Arbeitsplatzes.

Europa in Unruhe

EU-Ratspräsident Donald Tusk rief die neue Regierung zu „respektvollem Dialog und loyaler Zusammenarbeit“ auf. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker reagiert mit Zuckerbrot und Peitsche: „Man sollte Politiker nicht an ihren rhetorischen Einlassungen messen, sondern an ihren Taten.“ Gleichzeitig fordert er von Italien „mehr Arbeit, weniger Korruption“.

Diesem Wunsch kommt das Regierungsprogramm nach: An erster Stelle steht die Korruptionsbekämpfung („Marshallplan gegen Korruption“). Für Unruhe sorgt allerdings der Rest: Beide Regierungspartner wollen ihre WählerInnen befriedigen. Steuererleichterungen für Familien und den Mittelstand, ein BürgerInneneinkommen in Höhe von 780 Euro pro Monat und Person, die Reform der Renten für alle zur Bekämpfung der Altersarmut sowie eine BürgerInnenpension oberhalb der Armutsgrenze.

Das kostet: In Italien belaufen sich die Staatsschulden bereits heute auf fast 132 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung und sind damit mehr als doppelt so hoch als im EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt erlaubt. Die geplante Neuverschuldung von 2,4 Prozent bleibt zwar im Rahmen des Stabilitätspaktes. An Schuldenabbau und Strukturreformen, wie von der EU-Kommission eingefordert, denkt die neue Regierung jedoch nicht. Die Finanzierung soll über Neuverschuldung und Einsparungen mittels Korruptionsbekämpfung erfolgen.

Abfuhr des italienischen Haushaltsplans

Am 23. Oktober 2018 hat die EU-Kommission den italienischen Haushaltsplan abgelehnt und wendet sich damit erstmals gegen ein Gründungsmitglied der Europäischen Union. Ähnlich wie bei den Brexit-Verhandlungen verhärten sich die Fronten, die Sprache radikalisiert sich: „Europas Feinde sind diejenigen, die abgeschottet im Bunker von Brüssel sitzen“, so Innenminister Matteo Salvini von der Lega Nord.

Italien hat nun drei Wochen Zeit, um einen neuen Haushaltsplan für 2019 vorzulegen. Weigert sich die Regierung, eine Kursänderung vorzunehmen, so kann die EU-Kommission zu einem späteren Zeitpunkt Maßnahmen empfehlen, die letztlich zu einer Sanktion führen können. Der italienische Staat ist angesichts einer jährlichen Refinanzierung von Krediten über etwa 400 Milliarden Euro auf die Finanzmärkte angewiesen. Seit kurzem hat die Ratingagentur Moody’s die Bewertung der italienischen Kreditwürdigkeit auf nur noch eine Stufe über „Ramsch“ abstuft.

So einhellig das Wirtschaftsestablishment die Pläne der italienischen Regierung ablehnt, so populär sind sie bei der Bevölkerung. Mehr als zwei Drittel der WählerInnen der beiden Regierungsparteien hält explizit die Finanz- und Wirtschaftspolitik für gut. In diesem Ergebnis drückt sich die tiefe Verbitterung vieler ItalienerInnen im Zusammenhang mit dem bisher zwischen den traditionellen Parteien (unter den Ministerpräsidenten Enrico Letta und Matteo Renzi) und den Euro-Partnern abgestimmten Kurs in der Haushaltspolitik aus: Die öffentlichen Investitionen in Straßen, Schienen oder Schulen haben sich seit 2010 fast halbiert. Die Wirtschaft wuchs im Jahr 2017 um etwa 1,9 Prozent und damit so stark wie lange nicht. Das wirkte sich aber weder auf die Arbeitslosenquote noch auf die Einkommen der italienischen BürgerInnen aus.

Euroreform: Es steht Spitz auf Knopf

Ein Euro-Konfrontationskurs mit Strafen ist jedoch unwahrscheinlich. Er würde Italien nicht davon abhalten, mehr Geld auszugeben. Auch darf der Euro nicht gefährdet werden: Schon anlässlich der griechischen Wirtschaftskrise lag die Einschätzung der Zentralbanken falsch: Durch die Verflechtung der Finanzmärkte wäre die Krise ohne den massiven Einsatz von Rettungsgeldern trotz des geringen BIP-Anteils Griechenlands in der Eurozone auf den gesamten Euroraum übergesprungen. Italien aber ist zu groß, um gerettet zu werden, und beide Seiten wissen das. Allerdings weist Italien – anders als Griechenland – seit Jahren eine positive Leistungsbilanz auf, mit einem Handelsbilanzüberschuss bei Industrie- und Dienstleistungen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Seit geraumer Zeit fordern deshalb die Gewerkschaften dringend eine Euroreform. Der erreichte Wohlstand hat vor allem in der Eurozone nicht zu einer Teilhabe aller geführt, sondern zu einer dramatischen Zunahme der Einkommens- und Vermögensungleichheit. Es gibt kein Sicherheitsnetz für asymmetrische Schocks. Das hat die Krise 2008 vor Augen geführt, die bis heute in den betroffenen Mitgliedstaaten, so auch Italien, andauert. Ohne die Einführung einer europäischen Fiskalpolitik ist Europa auch für die nächste Krise nicht gewappnet. Dazu bedarf es eines starken makroökonomischen Anpassungsmechanismus in Form eines automatischen Stabilisators. Dieser könnte ausgestaltet sein als:

  • gemeinsame Arbeitslosenrückversicherung, die aber nicht durch die Beiträge der Beschäftigten oder nationale Arbeitslosenversicherungen finanziert wird;
  • eine Investitionsstabilisierungsfunktion;
  • ein Eurozonenbudget unter der Kontrolle des Europäischen Parlaments.

Ein solcher Mechanismus würde nicht nur eine ökonomische Aufwärtskonvergenz der Eurozonenstaaten bewirken. Er wäre auch eine wirksame Medizin zur Bekämpfung der Ursachen des Euroskeptizismus.