Sozialpartnerschaft #2 – Bausteine im Demokratisierungsprozess

23. Januar 2023

Die Sozialpartnerschaft wird als eines der Markenzeichen der Zweiten österreichischen Republik angesehen. Tatsächlich entwickelte sich dieser Mechanismus der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Konfliktregelung aber über mehr als ein Jahrhundert parallel zu den kleinen und großen Demokratisierungsprozessen der österreichischen Geschichte. Rückschläge in demokratiekritischen, diktatorischen und kriegerischen Phasen änderten nichts daran, dass 1945 bereits auf vorangegangene Erfahrungen zurückgegriffen werden konnte. Zumal war dies mit der Berufung auf den „Geist der Verfassung von 1920“ in der Proklamation der Zweiten Republik auch wieder politisch erwünscht.

Die ältesten Bausteine: Genossenschaften, Sozialversicherung und Arbeitsbeirat

Wenn unter dem „Prinzip Sozialpartnerschaft“ „die Notwendigkeit, mit dem ‚Gegenüber‘ auszukommen“, zu verstehen ist (Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Leitl 2005), dann sind jene Institutionen, in denen gewählte Vertreter:innen der Arbeitnehmer:innen erstmals staatlich akzeptiert mit Unternehmensvertreter:innen verhandelten, die ältesten Bausteine der Sozialpartnerschaft: die gewerblichen Genossenschaften mit gesetzlicher Zugehörigkeit und die Selbstverwaltungsorgane der Sozialversicherung. Die Selbstverwaltung der in den 1880er Jahren per Gesetz eingerichteten Arbeiter-Kranken- und Unfallversicherung war die erste öffentliche Institution Österreichs, in der gewählte Arbeiterdelegierte repräsentativ mitwirkten. Die gewerblichen Genossenschaften umfassten alle Erwerbstätigen eines Gewerbes auf regionaler Ebene. Die Gehilfen erkämpften sich nach und nach Mitbestimmungsrechte durch gewählte Gehilfenausschüsse. Über diese Gehilfenausschüsse verhandelten die frühen Gewerkschaften die ersten überbetrieblichen und halbwegs verbindlichen Kollektivverträge.

Die erste österreichische Institution, die Gewerkschaftsvertreter:innen und Vertreter:innen der Unternehmerorganisationen „paritätisch“ in gleicher Zahl umfasste, war der um 1900 eingerichtete „ständige Arbeitsbeirat“ des arbeitsstatistischen Amts im Handelsministerium des „österreichischen“ Teilstaates der Habsburgermonarchie. Eigentlich sollte der Beirat nur die Forschungsarbeit des arbeitsstatistischen Amts begleiten, er entwickelte sich aber zu einem Begutachtungsgremium, dessen Stellungnahmen immer wieder in Regierungsvorlagen einflossen. Darüber hinaus erarbeitete er zwischen den Interessensphären abgestimmte Reformkonzepte, zuletzt zur Reform der Sozialversicherung. Nur wenige der Vorschläge und Konzepte wurden tatsächlich im Reichsrat beschlossen, aber sie bildeten eine entscheidende Grundlage für das rasche Einleiten sozialpolitischer Maßnahmen in den Gründungsjahren der Ersten Republik.

Gewerkschaftsbeteiligung zum Krisenmanagement

In der Kriegsdiktatur ab 1914 hatten sozialpartnerschaftliche Kompromissfindungs- und Mitspracheversuche keine Chance. Selbst als die Russische Revolution und nationalstaatliche Bewegungen auf dem Boden der Habsburgermonarchie den Widerstand gegen Hunger, Krieg und Kriegsdiktatur unübersehbar werden ließen, die Rohstoffe für die Industrie fehlten und das Kriegsende absehbar schien, verzichtete das kaiserliche Militärregime auf „sozialpartnerschaftliche“ Unterstützung für das Krisenmanagement. Es begnügte sich vorerst damit, die Unternehmen der am stärksten vom Rohstoffmangel betroffenen Branchen zu „Kriegsverbänden“ zusammenzuschließen, zu Selbstverwaltungskörpern der Industrie mit Verwaltungs- und Organisationsaufgaben. Das von Gewerkschaftsseite geforderte paritätische Gremium zur Lösung sozialpolitischer Fragen wurde erst 1917 mit der Gründung der „Generalkommission für Kriegs- und Übergangswirtschaft“ realisiert.

Dem Hauptausschuss der Generalkommission gehörten neben Delegierten der Kriegsverbände, der Handelskammern, der zentralen Industriellenverbände und anderer Unternehmerorganisationen erstmals wieder Gewerkschafter:innen und dazu Vertreter:innen der Krankenkassen an. Die Tätigkeit seines Arbeitsausschusses und seiner Fachausschüsse (Finanzausschuss, Verkehrsausschuss, sozialpolitischer Ausschuss etc.) verlief zunächst nicht reibungslos. Es waren vor allem Delegierte der Industrieverbände, die sich erst an die Notwendigkeit gewöhnen mussten, mit den paritätisch vertretenen Gewerkschaftsdelegierten auf Augenhöhe zu verhandeln. Franz Hamburger, der Präsident der „Hauptstelle industrieller Arbeitgeber-Organisationen“, legte sogar aus Protest alle seine Mandate zurück. Besonders problematisch erschien vielen Industriellen die Errichtung von paritätischen Beschwerdekommissionen für die unter dem Kriegsleistungsgesetz stehende Arbeiterschaft, die auch auf die Lohnverhältnisse Einfluss nehmen sollten. Eindringlich wurde davor gewarnt, „den Gedanken paritätischer Kommissionen zu verallgemeinern und in die Friedenswirtschaft zu übernehmen“. Genau das geschah aber in der Gründungsphase der demokratischen Republik und ohne weitere Proteste der Arbeitgeber:innenseite, wenn man von den Auseinandersetzungen um das Betriebsrätegesetz 1919 absieht, als bemängelt wurde, man sei nun nicht mehr „Herr im eigenen Haus“.

Aus den Beschwerdekommissionen wurden in der Republik paritätisch besetzte „Einigungsämter“ zur Schlichtung von Streitfällen im Bereich der Arbeitsbeziehungen und mit der Funktion, Kollektivverträge zu registrieren und damit rechtsverbindlich zu machen. Zwangsschlichtung war dabei, im Gegensatz zu anderen Ländern, nie vorgesehen. Die Einigungsämter erfüllten ihre Aufgabe als demokratische Einrichtung bis 1933 und wieder in der Zweiten Republik bis 1986. Dann übernahmen die neuen Arbeits- und Sozialgerichte mit wieder paritätisch delegierten Laienrichter:innen einen Großteil dieser Aufgaben, nur das Obereinigungsamt, das unter anderem die Kollektivvertragsfähigkeit festzustellen hat, besteht nach wie vor.

Die unmögliche Mission

Waren die Gremien für das Krisenmanagement der Kriegs- und Übergangswirtschaft im Kompetenzbereich von Heeresverwaltung und Handelsministerium angesiedelt, so ging eine andere schon sehr ausgeprägte sozialpartnerschaftliche Initiative im Sommer 1918 vom neu gegründeten Sozialministerium aus: In Absprache zwischen Ministerialbürokratie, Arbeitgeber:innenvertretern und Gewerkschaftsdelegierten wurde ein Ausschuss eingesetzt, um die Überleitung des begrenzten staatlichen Lohnzuschusses für die Arbeiter:innen der Metallindustrie in eine definitive Regelung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse vorzubereiten. Die größten Industriellenverbände hatten sich mittlerweile zum „Reichsverband der Industrie Österreichs“ zusammengeschlossen, der ab jetzt die entscheidende Rolle im sozialpartnerschaftlichen Krisenmanagement spielen sollte und auch die Vertreter:innen der Industriellen in den Metallerausschuss delegierte. Das branchenübergreifende sozialpartnerschaftliche Gremium, das während der Republikgründungszeit eine gewichtige politische Rolle spielen sollte, erwuchs aber nicht aus dieser Initiative. Es wurde vielmehr aufgrund von Anträgen des späteren Wiener Bürgermeisters Jakob Reumann und des zukünftigen Staatskanzlers Karl Renner im Arbeitsausschuss für Kriegs- und Übergangswirtschaft im September 1918 geschaffen, also kurz vor Kriegsende. Dieses Gremium, das „paritätische Industriekomitee“, zeitweise auch „Industriekommission“ genannt, sollte dem Krisenmanagement zwischen Staat und Arbeitsmarktparteien zur Aufrechterhaltung der Produktion dienen.

Renner begründete seinen Antrag damit, „dass nur die Selbstverwaltung der Industrie, wobei die Unternehmerschaft und die Arbeiterschaft im Einvernehmen auf die möglichste Förderung des Arbeitsprozesses einzuwirken hätten, geeignet wäre, die industrielle Produktion durch die Krise hindurchzuführen“. Der Antrag erhielt allgemeine Zustimmung, Generalkommissär Riedl merkte nur ergänzend an, „dass diese Fragen von so allgemeiner Bedeutung seien, dass auch der Versuch werde gemacht werden müsse, eine Brücke zum Landvolk hinüberzuschlagen“. Hier wurde zum ersten Mal die Einbindung der Landwirtschaft in die sozialpartnerschaftlichen Regelungsmechanismen angesprochen, wie sie schließlich in der Zweiten Republik zum Tragen kam. Bei der Zusammensetzung der ab 1. Oktober 1918 tätigen „Industriekommission“ war die Landwirtschaft dann doch nicht berücksichtigt, aber die „gemeinsame Erörterung … von Fall zu Fall … gegenüber den Wünschen der Landwirtschaft“ zählte zu ihrem Aufgabenkatalog. Insgesamt wurde die Kommission auf eine „Mission Impossible“ geschickt. Sie sollte „bei den möglicherweise sich rasch und überstürzt gestaltenden neuen Verhältnissen“ für die Deckung des unmittelbaren Rohstoffbedarfs und aller anderen Produktionsmittel der Industrie sorgen und Möglichkeiten zur Ernährung und Bekleidung der Arbeiter:innen auftun. Sie hatte sich außerdem um Maßnahmen zur Versorgung und Integration der abgerüsteten Soldaten und der aus der Kriegsindustrie Entlassenen zu kümmern.

Neben den unmittelbaren Kriegsfolgen entstanden die enormen Probleme, denen sich die Kommission gegenübersah, durch die wirtschaftlichen Auswirkungen des Auseinanderfallens der Donaumonarchie in mehrere Nationalstaaten. Die Kornkammern in Ungarn und in der heutigen Ukraine lieferten nicht mehr, die Energieversorgung lag am Boden und die Textilindustrie konnte kaum den Inlandsbedarf decken. Vorausschauend wurde der Kommission weiters die Aufgabe der „einvernehmlichen Beilegung von Interessengegensätzen“ zugewiesen, „wenn der mit Kriegsschluss zu erwartende Preissturz seine unvermeidlichen Rückwirkungen auf die Arbeitslöhne ausübt“. Sie war als neutraler Boden gedacht, „auf dem sich die Vertreter der beidseitigen Interessen auf ein gemeinsames Vorgehen einigen oder in Fällen, wo ihre Bestrebungen sich kreuzen, die Gegensätze zu überbrücken und einen Ausgleich zustande zu bringen trachten“.

Wegbereiter für den demokratischen Sozialstaat

Noch vor der Kapitulation Österreich-Ungarns bildeten die deutschsprachigen Mandatare des 1911 gewählten Abgeordnetenhauses des Reichsrats der Monarchie die „provisorische Nationalversammlung“, die die Ausrufung einer demokratischen Republik vorbereitete und gleichzeitig die notwendigsten Schritte einleitete, um das Chaos des Zusammenbruchs so weit wie möglich in den Griff zu bekommen. Der Vollzugsausschuss der Nationalversammlung, dem Staatskanzler Renner und die Staatssekretäre unterstanden, war bereits die politisch bestimmende Kraft, obwohl parallel noch die kaiserliche Regierung amtierte. Die auf je drei Vertreter der Arbeitsmarktparteien verkleinerte und jetzt unter dem Vorsitz des deutschnationalen Wirtschafts-Staatssekretärs Karl Urban tätige Industriekommission wurde als „Industrielles paritätisches Komitee“ neu eingesetzt. Die Beamten der Staatsämter hatten zunächst nur beratende Stimme, aber als der (ja auch in der Zweiten Republik immer wieder auftauchende) Vorwurf laut wurde, das Gremium könne sich zu einer „unverantwortlichen Nebenregierung“ entwickeln, erhielten sie Stimmrecht.

Die sozialpartnerschaftliche Interessenabstimmung im Industriekomitee ermöglichte viele Innovationen, die bis in die Zweite Republik hinein als Eckpfeiler des demokratischen Sozialstaats von Bedeutung blieben. Entscheidend dafür war wohl nicht zuletzt, dass seine Tätigkeit in Vernetzung mit der parlamentarischen Beschlussfassung und deren Anerkennung erfolgte. Das Achtstundentagsgesetz und das Arbeiterurlaubsgesetz wurden hier ebenso ausverhandelt wie die Abschaffung des Arbeitsbuchs, das Betriebsrätegesetz und die schon erwähnte Umwandlung der Beschwerdekommissionen in demokratisch verortete Einigungsämter, dazu die rechtsverbindliche Anerkennung von Kollektivverträgen.

Eine der allerersten Maßnahmen, die das Komitee abstimmte und konzipierte, war die Einführung der Arbeitslosenunterstützung, die dann zur Arbeitslosenversicherung weiterentwickelt wurde, und die damit verbundene Errichtung der „Industriellen Bezirkskommissionen“, beides noch vor Ausrufung der Republik. Die „Industriellen Bezirkskommissionen“ setzten sich paritätisch aus Arbeitgeber:innen- und Gewerkschaftsvertreter:innen zusammen, ihnen unterstanden alle Arbeitsvermittlungsanstalten eines Bezirks, sie sorgten für das Auszahlen des Arbeitslosengelds und waren auch für die Berufsberatung zuständig. Die aktive Begleitung der Arbeitsmarktverwaltung beziehungsweise des Arbeitsmarktservice der Zweiten Republik durch sozialpartnerschaftliche Gremien ist die moderne Ausformung dieser Innovation von 1918.

Der raue Gegenwind

Schon im Verlauf des Jahres 1919, als man die Revolutionsgefahr gebannt sah, verhärtete sich das politische Klima, die Verhandlungen im Industriekomitee wurden immer schwieriger und fanden schließlich gar nicht mehr statt. Karl Renner versuchte, die Fronten durch das Einberufen von zwei großen „Industriekonferenzen“ aufzubrechen. Beide konnten Arbeits- und Lohnkonflikte erfolgreich beilegen, hatten aber keine längerfristige Wirkung für die Stabilisierung der Sozialpartnerschaft. Nach dem Beschluss der Bundesverfassung Anfang Oktober 1920 und der Niederlage der Sozialdemokratie bei der folgenden Nationalratswahl, bestimmten Mitte-rechts-Regierungen die politische Linie, deren Mitglieder dem demokratischen Sozialstaat meistens kritisch gegenüberstanden und die Einbeziehung der Gewerkschaftsbewegung in den politischen Entscheidungsprozess für eine Fehlentwicklung hielten. Dazu kam, dass die Siegermächte des Ersten Weltkriegs diese politische Linie unterstützten und dann als Vorgabe für die Kreditgewährung zur Budgetsanierung im Rahmen des Völkerbunds (der Vorläuferorganisation der UNO) ausdrücklich unterstützten.

Der Staat fiel also als dritter Beteiligter weg, und sozialpartnerschaftliche Konfliktlösungsmodelle hatten keine Chance mehr. Trotzdem startete die Arbeiterkammer in Wien 1921 noch einen Versuch und initiierte eine Industriekonferenz zum Thema „Kampf gegen die Arbeitslosigkeit“. Es kam dabei zu heftigen Auseinandersetzungen und auch die zur Konflikt- und Problemlösung eingesetzte „paritätische Kommission“ führte zu keinem Ergebnis. 1930 versuchte die Regierung allerdings, angesichts der Weltwirtschaftskrise das Erarbeiten einer gemeinsamen Krisenbewältigungsstrategie in die Wege zu leiten, scheiterte aber selbst in dieser Situation. Angesichts der Position, in der Wirtschaft gäbe es „kein Recht, nur Wettbewerb“ (Handelskammersekretär und Regierungsberater Ludwig Mises) war Problemlösung auf Augenhöhe unmöglich geworden.

Freie und gesetzliche Interessenvertretungen

Die neu geschaffenen Kammern für Arbeiter und Angestellte entsprachen mit der Initiative für die Industriekonferenz genau ihrem gesetzlichen Profil. In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage des ersten AK-Gesetzes hieß es ausdrücklich, dass jetzt den „Kammern der gewerblichen Unternehmer … für die in Gewerbe und Industrie, in Handel und Verkehr beschäftigten Arbeiter und Angestellten“ Einrichtungen gegenüberstünden, die „nicht nur völlig gleichwertig, sondern auch in ihrem Wirkungskreis derart ähnlich gestaltet sind, dass ein Zusammenwirken der beiderseitigen Körperschaften bei der Lösung von wichtigen Aufgaben der wirtschaftlichen Verwaltung ohne Schwierigkeiten möglich ist“. Das „Zusammenwirken“ sollte unbedingt unter demokratischem Vorzeichen geschehen. Die durch die absolutistische Ära nach 1848 geprägten Handelskammern hatten diesbezüglich Nachholbedarf und bekamen jetzt analog zu den Arbeiterkammern auch ein demokratisches Wahlrecht in die Selbstverwaltungsorgane zugestanden. Gleichzeitig erhielten sie durch das Einbeziehen neuer Gruppen ein umfassendes Vertretungsmandat, wie auch die Namensänderung in „Kammern für Handel, Gewerbe und Industrie“ signalisierte. Die Existenz gleichwertiger und gleichberechtigter, vom Parlament eingesetzter selbstverwalteter Interessenvertretungen mit gesetzlicher Zugehörigkeit neben den freien Organisationen wurde zu einem besonderen Kennzeichen der österreichischen Sozialpartnerschaft.

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