Gendersensible Statistik: Lebensrealitäten sichtbar machen

23. September 2014

Unterschiedliche Lebensrealitäten von Frauen und Männern zu (er-)kennen ist Voraussetzung dafür, diese zu verändern. Für die Gestaltung von Rahmenbedingungen und die Erarbeitung von Gleichstellungsmaßnahmen braucht es valide Zahlen, Daten und Fakten. Doch welche Merkmale sollen wie erhoben werden und welche Maßzahlen berechnet werden, um die Lebensverhältnisse von Frauen und Männern messbar zu machen und möglichst wirklichkeitsgetreu darzustellen? Eine neue Broschüre der Stadt Wien zum Thema „Gendersensible Statistik“ setzt sich mit den inhaltlichen und methodischen Fragestellungen zur Aufbereitung, Interpretation und Analyse von Genderdaten auseinander.

Klar ist, dass gendersensible Statistik – wie die Statistik im Allgemeinen – kein exaktes Bild der Wirklichkeit in Zahlen abbilden kann. Die Herausforderung beginnt bereits bei den Daten: Welche Datenquellen stehen zur Verfügung und in welcher Qualität? Zudem muss die Form der Darstellungsform an die spezifischen Bedürfnisse der NutzerInnen angepasst werden. Die einfachste und auch am weitesten verbreitete Form von gendersensibler Statistik ist das „Sex-Counting“, also das getrennte Ausweisen von Daten für Frauen und Männer. Diese Form der Datenaufbereitung kann als erster Schritt bzw. als Mindestanforderung gendersensibler Statistik bezeichnet werden (vgl. Maltschnig et al.).

Geschlecht oder Gender?

Angesichts der sprachlich und konzeptionell unterschiedlichen Bedeutung der Begriffe „sex“ und „gender“ drängt sich die Frage auf, inwieweit es sich bei der Differenzierung nach dem Geschlecht um „Genderstatistik“ handelt. Tatsächlich ist die Kategorie „Gender“ als solche nicht oder nur schwer fassbar. Dennoch treten „Genderunterschiede“, die sich aus den unterschiedlichen Lebensläufen ergeben, häufig zu einem bestimmten Zeitpunkt als Geschlechterunterschiede zu Tage. Die Rolle, die dem sozialen Geschlecht „Frau“ zugeschrieben wird, führt beispielsweise dazu, dass Frauen häufiger als Männer bei der Kindererziehung zuhause bleiben, was sich in Form niedrigerer Frauenerwerbsquoten ausdrückt.

Die damit verbundene Einteilung in zwei starre Kategorien, nämlich „die Frauen“ und „die Männer“, bringt aber auch Probleme mit sich: Wird nur zwischen Frauen und Männern unterschieden, suggeriert dies, dass es sich um homogene Gruppen handle und es besteht die Gefahr, dass Geschlechterstereotype gebildet oder fortgeschrieben werden. Gleichzeitig ist mit der strikten Einteilung in zwei biologische Geschlechter auch implizit die Vorstellung der Heterosexualität als Norm verbunden. Durch den Verzicht der Erfassung des Geschlechts wäre allerdings die Gefahr zu groß, strukturelle Benachteiligung einer großen gesellschaftlichen Gruppe – nämlich der Frauen – zu verkennen. Eine Öffnung der binären Zuordnung scheitert wiederum an methodischen Problemen.

Nun ist die Berücksichtigung des Merkmals Geschlecht zwar unabdingbar, jedoch nicht ausreichend für ein umfassendes Verständnis von gendersensibler Statistik. Gleichstellungs- und Genderaspekte müssen in allen Themenbereichen mitbedacht werden und nicht nur bei jenen, die direkt für die konkrete Frauen- oder Gleichstellungspolitik gebraucht werden. So ist die Tatsache, dass die Einkommen der Männer jene der Frauen übertreffen weithin bekannt. In anderen Bereichen (wie z.B. Mobilitätsverhalten oder Energieverbrauch) sind geschlechtsspezifische Unterschiede weniger offensichtlich bzw. werden Geschlechterverhältnisse oft falsch wahrgenommen (vgl. Schultheiss).

Die Kunst des messbar-Machens

Neben dem reinen „Sex Counting“ besteht ein weiterer Schritt zur gendersensiblen Datenanalyse darin, die Werte von Frauen und Männer gesondert zu interpretieren, zueinander in Beziehung zu setzen und aussagekräftige Kenngrößen – sogenannte Indikatoren – zu bilden. Relativ bekannte und allgegenwärtige Indikatoren sind Verhältniszahlen, wie zum Beispiel der so genannte „gender pay gap“. Zur Messung eines vielschichtigen Politikziels wie beispielsweise der „Gleichstellung zwischen Frauen und Männer“ ist es allerdings nicht möglich, dafür einen einzigen „Gleichstellungsindikator“ zu definieren, da dies unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche betrifft. Hierfür ist es sinnvoll ein Indikatorenset, also eine Auswahl von Schlüssel- bzw. Leitindikatoren zu treffen (vgl. Maltschnig).

Die Auswahl der Indikatoren und Maßzahlen prägt dabei das Abbild, das von der Realität geschaffen wird. Je nachdem, welche Aspekte ausgewiesen werden und nach welchen Merkmalen die Daten differenziert wurden, kann die Statistik aber auch die Aufmerksamkeit selbst lenken und marginalisierte Bevölkerungsgruppen in den Blick rücken, die zuvor noch nie gesondert betrachtet wurden. Die konkrete Ausgestaltung der Indikatoren ist immer von den verfolgten Zielsetzungen und Vergleichsperspektiven abhängig, wobei diese selten dezidiert ausgewiesen werden. Dies kann wohl damit erklärt werden, dass die dahinterliegenden Wertvorstellungen und das politische Verständnis damit sichtbar und auch angreifbar werden.

Die unterschiedlichen Auffassungen von Geschlechtergerechtigkeit sind es dann auch, die Anlass für unsachlich geführte Debatten über geschlechtsspezifische Einkommensunterschiede sind, die eine Ungleichbehandlung aufgrund von Geschlecht bzw. Gendergaps grundsätzlich in Frage stellen. Wird das Ziel der Geschlechtergerechtigkeit bzw. der Chancengleichheit auf das Ziel der „gleichen Verwirklichungschancen“ präzisiert, geht es um die Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit Individuen nicht nur formale, sondern auch tatsächliche Wahlfreiheit haben. Diese Verwirklichungschancen können auch in einer Gesellschaft, die die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern garantiert, sehr ungleich verteilt sein (vgl. Kiessling).

Gendersensible Statistik in der Praxis

Die Stadt Wien bedient sich zukünftig des besonderen Steuerungsinstruments des Datenmonitorings. Bei der Erstellung des ersten Wiener Gleichstellungsmonitors wurden gleichstellungsrelevante Aspekte in einem breiten Themenspektrum dargestellt. Dadurch solle es ermöglicht werden, eine kontinuierliche und systematische Beobachtung von Problemlagen im Blickfeld der Aufmerksamkeit zu halten und den Gleichstellungsprozess in die gewünschte Richtung zielgerichtet steuern zu können (vgl. Kiessling).

Gendersensible Statistik kann eine Grundlage und Begleitung evidenzbasierter Gleichstellungspolitik bieten. Doch ist es eine einfache, wie weitreichende Erkenntnis, dass selbst das optimale Datenangebot und inhaltliche und methodische Perfektion nichts nützen, ohne das politische Gewicht. Im Bereich des Arbeitsmarktes zeigen bereits vorhandene Daten, dass Frauen zwar immer stärker am Erwerbsleben teilnehmen, die Verteilung unbezahlter Arbeit aber eine erstaunliche Persistenz aufweist. Genauso wie es eine Frage der politischen Anschauung ist, wie der gender pay gap „adäquat“ berechnet werden sollte, stellt sich auch die Frage nach der Anerkennung dieser Produktionsleistung. Denn solange dieser Leistung keine Anerkennung und Relevanz zuerkannt wird, wird sie auch nicht gezählt und gemessen. Und solang diese nicht gezählt und gemessen wird, zählt sie auch nicht und bleibt damit weitgehend unbelohnt.

Bei diesem Blogbeitrag handelt es sich um eine Zusammenstellung aus Beiträgen der kürzlich von der MA 23 der Stadt Wien publizierten Broschüre „Gendersensible Statistik. Lebensrealitäten sichtbar machen“. Die Literaturangaben verweisen auf die jeweiligen Beiträge dieser Publikation.