Fünf Bildungsmythen und der Stillstand im System

01. September 2022

Das neue Schuljahr startet. Auch in diesem Jahr wird sich die Zahl der Maturant:innen weiter erhöhen; der Anteil von Studienanfänger:innen wird weiter anwachsen. Positive Entwicklungen also, die vermuten lassen könnten, das österreichische Bildungssystem wäre auf dem richtigen Weg. Ein Blick auf die Kehrseite der Medaille verrät hingegen: Nicht alle profitieren von der Bildungsexpansion in gleichem Ausmaß, herkunftsbedingte Bildungsungleichheiten sind in Österreich weiterhin stark ausgeprägt und konnten in den letzten Jahren kaum abgebaut werden.

Im Gegenteil: Etlichen Studien zufolge haben sich Bildungsungleichheiten in Folge der Schulschließungen während der COVID-19-Pandemie noch verstärkt. Trotz dieser empirischen Befunde zeichnet sich die österreichische Bildungspolitik in den vergangenen Jahren eher durch kleinteilige Bildungsprojekte aus, grundlegende Veränderungen wurden damit nicht erreicht. Noch im Sommer stellte Bildungsminister Polaschek medial klar: „Wir brauchen keine groß angelegte Grundsatzdiskussion“, man solle lediglich „an den Schräubchen drehen, an denen wir drehen können“. Diese Verweigerungshaltung liegt nicht zuletzt an gängigen Fehlannahmen, die den Blick auf den Reformbedarf im Bildungssystem verhindern. Wir greifen fünf dieser Annahmen auf und zeigen, dass sie empirisch nur schwer zu halten sind. Es sind Mythen, die sich um das österreichische Bildungssystem ranken und die eine Systemdiskussion erschweren.

Mythos 1: „Bildungserfolg ist eine Frage der Leistung

Diese Aussage stimmt kaum. Natürlich prägen Interesse, Engagement und aktives Lernen von Kindern und Jugendlichen ihre Bildungsprozesse – die individuelle Komponente spielt eine Rolle. Gleichzeitig wäre gemäß dem Leistungsprinzip zu erwarten, dass Kinder, die z.B. am Ende der Volksschule gleich gut lesen können, auch die gleichen Chancen auf eine gymnasiale Bildungslaufbahn haben und die Merkmale der Herkunftsfamilie keine Rolle (mehr) spielen. In Österreich greift dieses Leistungsprinzip nicht, vielmehr zeigen Studien seit Jahrzehnten, dass sich schulische Leistungen von Kindern deutlich nach sozioökonomischer Herkunft unterscheiden, u. a. aufgrund ungleicher Verfügbarkeit von Bildungsressourcen und lernförderlichen Bedingungen in den Herkunftsfamilien. Von den Kindern, die am Ende der Volksschule so gut lesen können wie der Altersdurchschnitt, gehen 60 Prozent auf ein Gymnasium, wenn sie aus Akademiker:innenfamilien kommen. Haben die Eltern hingegen maximal Pflichtschulabschluss, gehen nur 28 Prozent im Anschluss an die Volksschule in eine AHS-Unterstufe – bei gleicher Leseleistung. Selbst wenn Kinder gleichwertige schulische Leistungen erzielen, fließen in Bildungswegentscheidungen zahlreiche „inhaltliche“ und „strategische“ Aspekte der Eltern ein (welche Schule kann sich die Familie leisten; wie viel Wissen über Schulen und Bildungswege besteht; welche Erfahrungen haben Eltern auf ihrem eigenen Bildungsweg gemacht etc.). Die frühe Selektion am Ende der Volksschule trägt in erster Linie dazu bei, dass diese Ungleichheiten kaum abgebaut werden können.

Mythos 2: „Noten spiegeln schulische Leistungen wider“

Diese Aussage stimmt nur teilweise. Ziffernnoten suggerieren eine Objektivität und Vergleichbarkeit, die genauerer Überprüfung nicht standhält. Denn diese zeigt lediglich einen losen Zusammenhang zwischen Noten und der Kompetenz in dem benoteten Gegenstand. Die Bildungsstandardüberprüfung (BIST) in der 4. Schulstufe Volksschule (2013) weist etwa nach, dass lediglich 69 Prozent der berichteten Mathematik-Noten mit dem Leistungsbereich der BIST übereinstimmen. Noch deutlicher wird die fehlende Objektivität der Ziffernnoten in der Sekundarstufe. In der 8. Schulstufe stimmen nur mehr etwa 39 Prozent der berichteten Noten aus den NMS und etwa 47 Prozent der berichteten Noten aus den AHS mit dem gemessenen Leistungsbereich überein. Neben dem Objektivitätsdefizit weisen Noten zudem eine inhaltlich begrenzte Aussagekraft aus. Ziel von Leistungsbeurteilungen sollte es sein, die erlernten Kompetenzen für den/die Schüler:in oder auch Dritte darzustellen. Diese Feedbackfunktion erfüllen Ziffernnoten nicht, da sie weder aufzeigen, wie oder wo im Detail weitergearbeitet werden kann; es wird auch nicht ersichtlich, welche Entwicklung in der letzten Lernphase vollzogen oder mit wie viel Engagement gelernt wurde. Ziffernnoten sind informationsarm und daher als Feedbackinstrument ungeeignet. Besonders kontraproduktiv ist, dass Ziffernnoten die Defizitorientierung fördern, indem Kinder und Jugendliche laufend auf ihre Schwächen fokussiert werden, während ein Einser keinen Anreiz mehr bietet, weiter an einer Stärke zu arbeiten und sie weiterzuentwickeln. Eine differenzierte Leistungsbeurteilung ist daher für die Lernmotivation und -förderung deutlich geeigneter.

Mythos 3: „Jede Schule kann Kindern den Schulerfolg ermöglichen“

Diese Aussage ist ein Mythos. Fakt ist: Es gibt in Österreich Schulstandorte mit einer hohen Zahl an Kindern, denen ihre Eltern bei den Hausaufgaben oder beim Lernen aufgrund unterschiedlichster Gründe (berufliche Belastungen, Betreuungspflichten, etc.) nicht helfen können. Diese Standorte stehen vor großen Herausforderungen, ihren Schüler:innen ein vernünftiges Lernumfeld zu bieten und sie erfolgreich zum Bildungsziel zu begleiten. In Österreich waren 2018 insgesamt rund 346.000 Schüler:innen an Schulen, die vor großen bis sehr großen Herausforderungen stehen. Allein 14 Prozent aller Volksschulen befinden sich in “schwieriger Lage”. Sie sind häufiger in großen Städten zu finden – unabhängig vom Bundesland. Dabei zeigt sich, dass Schüler:innen an diesen Standorten in schwierigen Lagen durchschnittlich deutlich niedrigere schulische Leistungen erzielen können.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Damit wird deutlich: Will man gerechte Bedingungen an jedem Standort, dann braucht ein Großteil der österreichischen Pflichtschulen zusätzliche finanzielle Mittel, um in aktive Schulentwicklung und mehr Unterstützungspersonal zu investieren, um damit eine nachhaltige Weiterentwicklung der Schulstandorte zu gewährleisten. Gerade beim Unterstützungspersonal besteht hoher Bedarf: Eine pädagogisch unterstützende Kraft kommt in Österreich auf 19 Lehrkräfte. Im EU-Schnitt ist das Verhältnis 8:1. Es überrascht daher nicht, dass Schulleiter:innen hier einen hohen Bedarf sehen, der sich über eine Vielzahl an Professionen – von Schulsozialarbeiter:innen bis hin zu administrativen Kräften – erstreckt.

Mythos 4: „Privatschulen bringen bessere Leistungen“

Weil manche öffentlichen Schulen vor schwierigen Herausforderungen stehen, scheinen Privatschulen eine attraktive Alternative für Eltern mit ausreichend finanziellen Ressourcen zu sein. Diese Attraktivität ist häufig mit der Annahme verbunden, dass Schüler:innen an Privatschulen durchschnittlich bessere schulische Leistungen erzielen als an öffentlichen Schulen. Das ist – empirisch gesehen – ein Mythos. Bei den meisten PISA-Erhebungen zwischen 2003 und 2018 bestanden beispielsweise keine signifikanten Unterschiede in den durchschnittlichen Schulleistungen der Schüler:innen zwischen privaten und öffentlichen Schulen. Lediglich in PISA 2009 und 2012 erreichten Schüler:innen an privaten Schulen zunächst höhere Testleistungen als gleichaltrige Schüler:innen an öffentlichen Schulen – dieser “Vorteil” war aber nicht auf die Privatschule als Schulform, sondern auf die sozioökonomische Zusammensetzung der Schüler:innen an Privatschulen zurückzuführen. Privatschüler:innen erreichen v. a. deshalb bessere Leistungen, weil sie häufiger aus privilegierteren Elternhäusern stammen und damit über ein höheres Ausmaß an bildungsrelevanten Ressourcen und Unterstützungsleistungen verfügen, die sich wiederum positiv auf den Bildungserfolg des Kindes auswirken. Werden diese Unterschiede im Vergleich berücksichtigt, zeigt sich hingegen: Privatschulen per se bringen in Österreich keine besseren Schulleistungen.

Mythos 5: Kinder sollten erst die Unterrichtssprache lernen, bevor sie am Regelunterricht teilnehmen  

Dieser Mythos ist ein landläufiges Argument zugunsten getrennter „Vorbereitungsklassen“ für neu zugewanderte Schüler:innen – in Österreich wurde er gar zur Einführung allgemeiner „Deutschförderklassen“ für Schüler:innen mit „ungenügender“ Kenntnis der Unterrichtssprache Deutsch (§ 8h SchOG) angeführt. Das ignoriert nicht nur die unterschiedlichen Ausgangslagen neu zugewanderter Quereinsteiger:innen gegenüber in Österreich sozialisierten Kindern mit anderen Erstsprachen als Deutsch. Selbst in Bezug auf Neuzugewanderte steht der Mythos in Kontrast zu wissenschaftlichen Befunden und Empfehlungen: So erweist sich empirisch die Verschränkung von integrativen und getrennten (additiven) Elementen effektiver im Hinblick auf den Zweitspracherwerb zugewanderter Schüler:innen, zugleich wird dadurch auch eine Unterbrechung ihrer fachlichen Entwicklung vermieden. Sprachstruktur und Wortschatz werden rascher erworben, wenn sie für die Bewältigung des fachlichen Lernalltags gebraucht werden. Zudem kommt dem sprachlichen Austausch mit gleichaltrigen, in der Unterrichtssprache kompetenten, Peers wesentlicher Einfluss zu, die Lehrkraft sollte also nicht das einzige Sprachvorbild in der zu erlernenden Zweitsprache bleiben. OECD-Vergleiche zeigen, dass getrennte Programme nicht nur weniger erfolgreich in der Entwicklung hoher zweitsprachlicher Kompetenzen sind, sondern auch bei der Unterstützung beim Übergang in die Regelklasse schlechter abschneiden, da betroffene Schüler:innen gegenüber ihren Kolleg:innen in der Regelklasse noch weiter zurückfallen – was die OECD zur klaren Empfehlung bewogen hat: „Avoid ‚pull-out‘-programmes“. Sprachförderung solle „ergänzend zu“ statt „anstelle von“ Regelunterricht erfolgen. Es sei weder notwendig noch wünschenswert, die Teilnahme am Regelunterricht so lange komplett aufzuschieben, bis Schüler:innen ein erwünschtes Niveau der Unterrichtssprache erreicht haben.

Fazit: Wir brauchen eine Systemdiskussion!

Diese fünf irreführenden Mythen sind nur ein Ausschnitt, die Liste ließe sich weiter verlängern. Sie sind deshalb problematisch, weil sie den Blick für die notwendigen Reformen versperren, das Zurücklehnen der Bildungspolitik begünstigen und damit Stillstand produzieren. Anstatt sich an einer Vielzahl an kleinen Reformen (“Schräubchen”) abzuarbeiten, sollten die großen Fragen über die Ausgestaltung des österreichischen Bildungssystems wieder mit mehr Mut in den Mittelpunkt gerückt werden. Die starke Persistenz von herkunftsbedingten Bildungsungleichheiten lässt sich mittelfristig kaum verändern, wenn das stark gegliederte Schulsystem mit früher Trennung erhalten bleibt. Die frühe Selektion bereits nach vier Schuljahren fördert den Notendruck, die Konzentration auf Defizite und stört den Lernfluss. Getrennte Deutschklassen vor Regelunterricht sind weder für die fachliche noch die sprachliche Entwicklung von Kindern die beste Lösung. Auch die Halbtagsschule ist nicht in der Lage, ausreichend Zeit und Raum zu bieten, um Kinder und Jugendliche zum Schulerfolg zu begleiten, es braucht eine kostenlose Ganztagsschule für jedes Kind in Wohnumgebung sowie ein qualitätsvolles Angebot an Freizeitpädagogik. Bundesmittel für Schulen sollten nicht länger nach dem Gießkannenprinzip vergeben werden, vielmehr braucht es eine bedarfsgerechte Verteilung zusätzlicher Bundesmittel, damit insbesondere Schulen in schwierigen Lagen Kinder und Jugendliche zum Schulerfolg begleiten können. Für all das braucht es Mut und den Willen zur Veränderung statt Fortführung des Status Quo – das Entlarven gängiger Bildungsmythen kann dafür ein erster Schritt sein.

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