EU-USA-Handelsabkommen TTIP: Deregulierungsinteressen treffen auf ein „lebendes Abkommen“

26. Mai 2014

Das transatlantische Handels- und Investitionsabkommen zwischen der EU und den USA (TTIP) rückt immer stärker in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Der Abbau von Unterschieden zwischen Regulierungen in der EU und den USA bildet einen Kernbestandteil der Verhandlungen. Doch welche Interessen und Ziele stehen hinter der Agenda der Verhandlungen? Ein Überblick über fragwürdige Prognosen, Unternehmensinteressen und Pläne der EU-Kommission zeigt: Konzernlobbys auf beiden Seiten des Atlantiksdrücken mit ihren (De-)Regulierungsplänen dem TTIP ihren Stempel auf.

Das TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership), welches seit Sommer 2013 zwischen der EU und den USA verhandelt wird, ist längst zu einem medial breit diskutierten und hoch umstrittenen Thema geworden. Eines ist klar: Traditionelle Handelsfragen wie Zollsenkungen machen nicht die bestimmenden Fragen der TTIP-Verhandlungen aus. Da die durchschnittlichen Zölle zwischen der EU und den USA ohnehin relativ niedrig sind, stellt der Abbau von Unterschieden zwischen Regulierungen in den beiden Wirtschaftsräumen eines der zentralen Ziele des TTIP dar. Das Abkommen soll etwa durch Harmonisierung und gegenseitige Anerkennung von unterschiedlichen Regulierungen „unnötige“ Barrieren für den transatlantischen Handel abbauen. Kritische Stimmen warnen daher schon seit dem Beginn der Diskussion über TTIP vor einem möglichen Aufweichen von wichtigen Bestimmungen zum Schutz von KonsumentInnen, ArbeitnehmerInnen, der Lebensmittelsicherheit und der Umwelt.

Abbau von Regulierungsdifferenzen als Konjunkturmotor? „Blinde Flecken“ und fragwürdige Annahmen

Die von der EU-Kommission bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederholten Wachstumsversprechungen durch den Abschluss des TTIP basieren zum Großteil auf den Erwartungen, die in den Abbau von sogenannten nichttarifären Handelshemmnissen gesetzt werden. Unter letzteren versteht man unterschiedlichste Maßnahmen, die den grenzüberschreitenden Handel beeinträchtigen können und nicht auf Zölle zurückzuführen sind. Analysen der AK haben jedoch bereits gezeigt, dass die bekannten Studien zu den ökonomischen Auswirkungen des Abkommens zum einen lediglich marginale Impulse als Ergebnis haben. Die von der EU-Kommission verwendeten Prognosen der Effekte durch TTIP beruhen auf einer Studie, die bei näherer Betrachtung im „weniger ambitionierten“ – aber immer noch optimistischen – Szenario nur rund 0,03 Prozentpunkte als jährlichen BIP-Anstieg innerhalb von zehn Jahren für die EU in Aussicht stellen. Zum anderen beruhen selbst diese marginalen Ergebnisse auf höchst fragwürdigen Annahmen. Diese Kritik wird nun auch durch eine neue Studie der Österreichischen Forschungsstiftung für InternationaleEntwicklung (ÖFSE) untermauert, die unter anderem aufzeigt, dass die gesellschaftlichen Kosten, die durch die Eliminierung, Harmonisierung oder gegenseitige Anerkennung von als nichttarifäre Maßnahmen definierten Regulierungen entstehen, in den wesentlichen Studien zu TTIPnicht beachtet werden. So liegt den Berechnungen des ökonomischen Mainstreams die Annahme zugrunde, dass eine Reduktion der nichttarifären Handelshemmnisse per se wohlfahrtssteigerndsei. Dass Gesetze, Regulierungen und Standards Ziele des öffentlichen Gemeinwohls verfolgen, Ausdruck gesellschaftlicher Präferenzen sind oder Marktversagen korrigieren – und damit selbst auf wohlfahrtssteigernde Effekte ausgerichtet sind –, gerät dabei ausdem Blickfeld. Die von den TTIP-VerhandlerInnenhäufig geäußertePrognose eines bedeutenden Wachstums- und Beschäftigungsschubsdurch TTIP istdaher auf ein äußerst zweifelhaftes Fundament gestützt.

Deregulierungsinteressen transnationaler Konzerne: Vorsorgeprinzip im Fadenkreuz der Unternehmenslobbys

Zahlreiche regulatorische Unterschiede, die für Unternehmenslobbys „unnötige Kosten“ darstellen, sind allerdings keineswegs nur auf technische Differenzen, sondern vielmehr auf fundamental unterschiedliche Regulierungsphilosophien zurückzuführen. In vielen Bereichen des Umwelt- und Gesundheitsschutzes verfolgt die EU das sogenannte Vorsorgeprinzip, demzufolge auch bei fehlender endgültiger wissenschaftlicher Gewissheit über das Ausmaß der Risiken präventive Maßnahmen zum Schutz von Menschen, Tieren und Umwelt, wie etwa Verbote von Produkten und Herstellungsweisen, gesetzt werden können. Die USA wenden in diesen Fragen hingegen zumeist einen gegenteiligen Ansatz an, der eindeutige wissenschaftliche Gewissheit über die Schädlichkeit voraussetzt, um etwa Verbote aussprechen zu können. Weite Teile der – nicht nur US-amerikanischen – UnternehmensvertreterInnen machen längst Druck, das TTIP zur Abschaffung des präventiven Regulierungsansatzes in der EU zu nutzen. „Es ist nur dann wert, TTIP umzusetzen, wenn der regulatorische Aspekt umfasst ist, was etwa beinhaltet, das Vorsorgeprinzip loszuwerden“, äußerte sich beispielsweise Shaun Donnelly, ein früherer US-Handelsbeamter, der nun als Lobbyist für den US Council for International Business fungiert, in einem Vortrag im Oktober 2013.

Insbesondere in den Bereichen, in denen in der EU das Vorsorgeprinzip angewandt wird, – wie in der Chemikaliensicherheit, dem Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen und mit Hormonen behandeltem Fleisch – bestehen daher nahezu unüberbrückbare transatlantische Regulierungsunterschiede. Die groß angelegten Lobbyoffensiven von VertreterInnen transnationaler Konzerne in Richtung einer Aushöhlung der strengeren europäischen Schutzbestimmungen in diesen Bereichen nähren Befürchtungen der kritischen Zivilgesellschaft vor einer umfassenden Deregulierung im Zuge des TTIP. In den USA wiederum bestehen Bedenken, dass TTIP zu einer Aufweichung der US-Regulierungen von Finanzdienstleistungen kommen könnte, die nach der Finanzkrise verschärft wurden.

Langfristige Deregulierungsagenda durch ein „lebendes Abkommen“ mit Demokratiedefizit

Die EU-Kommission versucht, den KritikerInnen des Liberalisierungsdeals Wind aus den Segeln zu nehmen und versichert, dass es keine Änderungen der gesetzlichen Regelungen zu Gentechnik und Hormonfleisch im Zuge von TTIP geben werde. „Kompromisse in Sachen Sicherheit, Verbraucherschutz oder Umwelt wird es nicht geben. Geben wird es aber eine Bereitschaft, pragmatisch zu erkunden, ob wir nicht besser und koordinierter handeln können“. Sind durch die beschwichtigenden Aussagen der EU-Kommission also sämtliche Bedenken ausgeräumt? Davon kann keine Rede sein. Zum einen muss dahingehend Druck gemacht werden, dass nicht nur bei den gesetzlichen Bestimmungen von Schutzstandards und der Möglichkeit zur weiteren Erhöhung des Schutzniveaus keine Abstriche gemacht werden, sondern auch, dass die Umsetzung dieser Bestimmungen nicht verwässert wird. Zum anderen ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt, dass das Feilschen um Harmonisierung und gegenseitige Anerkennung noch lange nicht vorbei sein wird, sollte das Abkommen einmal in Kraft treten. Dies liegt daran, dass TTIP im Rahmen der regulatorischen Agenda ein „lebendes Abkommen“ darstellen soll, das die institutionellen Mechanismen und Prozesse für langfristige kontinuierliche Verhandlungen bereitstellt. In einem geleakten Positionspapier der EU-Kommission zum sektorenübergreifenden Kapitel zur regulatorischen Kohärenz finden sich Vorschläge, die darauf abzielen, dass EU- und US-Behörden auch nach In-Kraft-Treten des Abkommens eng zusammenarbeiten, um bestehende regulierungsbedingte Handelsbarrieren abzubauen und neue zu verhindern. Die Bestimmungen dieses Kapitels sollen sich prinzipiell auf sämtliche geplanten und bestehenden Regulierungsmaßnahmen mit allgemeiner Anwendung beziehen, die bedeutende Auswirkungen auf den internationalen, insbesondere transatlantischen, Handel haben. Diese würden etwa in der EU Verordnungen und Richtlinien ebenso umfassen wie Umsetzungsmaßnahmen und sogenannte delegierte Rechtsakte. Selbst eine Anwendbarkeit auf Regulierungen der EU-Mitgliedstaaten wird in Aussicht gestellt. Damit wird klar: So gut wie jeder Rechtsakt in der EU und den USA könnte nach diesen Plänen von TTIP betroffen sein.

Nach den Vorstellungen der EU-Kommission soll ein sogenannter „Regulatory Cooperation Council“ geschaffen werden, eine mit VertreterInnen von Regulierungsbehörden von beiden Seiten des Atlantiks zusammengesetzte technokratische Institution, die die Umsetzung der eingegangenen Verpflichtungen in dem Bereich überwachen und die Richtung für neue Vorhaben des Abbaus von Regelungsunterschieden vorgeben soll. Das Kommissionskonzept sieht unter anderem auch vor, dass bei potenziell relevanten Regulierungsvorschlägen die möglichen Auswirkungen der Regelungen auf den transatlantischen Handel genau geprüft werden sollen. Die Stoßrichtung ist ebenso eindeutig wie besorgniserregend: Der Fokus der Zusammenarbeit soll nicht auf einer Erhöhung der Schutzbestimmungen im öffentlichen Interesse gerichtet sein, sondern darauf, wie Handel durch einen Abbau „unnötiger“ Kosten erleichtert werden kann. Zudem will die EU-Kommission Mechanismen schaffen, damit die Stellungnahmen von Interessenvertretungen auf beiden Seiten des Atlantiks zu regulatorischen Maßnahmen besser berücksichtigt werden. In der Praxis könnten diese Vorschläge dazu führen, dass ressourcenstarke Unternehmenslobbys sowohl auf europäischer als auch auf US-Seite verstärkten Einfluss auf Gesetzgebung und sonstige Regelsetzung ausüben können. Fazit

Während die makroökonomischen Erwartungen, die an einen weitreichenden Abbau transatlantischer Regulierungsunterschiede geknüpft werden, äußerst zweifelhaft sind, erscheinen die materiellen Unternehmensinteressen hinter der regulatorischen Agenda des TTIP um einiges klarer. Dabei geht es keineswegs lediglich um technische Details. Nicht alle Unternehmensinteressen werden erfüllt sein, falls TTIP in Kraft tritt. Doch die Konzepte zur regulatorischen Zusammenarbeit rund um den geplanten Rat zur regulatorischen Kooperation könnten die transatlantische Deregulierung zu einem langfristigen Projekt machen. Somit könnten die EU und die USA auch nach einem Abschluss der TTIP-Verhandlungen kontroverse Regulierungsunterschiede unter verstärktem Unternehmenslobby-Einfluss abbauen und neue vermeintliche Handelsbarrieren durch harmonisierte Regeln verhindern – das alles unter vermutlich deutlich geringerer öffentlicher Aufmerksamkeit als während der eigentlichen Verhandlungen des transatlantischen Handelsdeals.

Die Langfassung dieses Beitrages erschien im infobrief eu & international, der kostenlosen Zeitschrift der Abteilung EU & Internationales der AK Wien: Nikolai Soukup (2014): Die Deregulierungsinteressen der Konzernlobbys: Eine Agenda mit Nebenwirkungen.