Zur Diskrepanz zwischen Zielen und Realität in der EU am Beispiel des Europäischen Sozialfonds (ESF)

06. Dezember 2013

Seit 1958 ist der ESF das wichtigste Instrument der Europäischen Gemeinschaft zur Unterstützung der beruflichen Mobilität sowie zur Anpassung an industriellen Wandel. Standen in der jüngeren Entwicklung die Bereiche Beschäftigung und Bildung im Zentrum, so soll der ESF in der neuen Förderperiode (2014-2020) darüber hinaus auch einen Beitrag im Kampf gegen die Armut leisten. Darin spiegelt sich der veränderte soziale Kontext: gekennzeichnet durch verbreitete einschneidende Problemlagen und Herausforderungen. Die Frage ist, ob sich darin auch eine Stärkung der sozialen Orientierung der EU spiegelt? Oder tut sich erneut eine Diskrepanz zwischen verbal propagierten sozialen Zielen und dominant an wirtschaftlichen Prioritäten orientierter Ausrichtung der EU auf?

Europa-2020-Strategie

In der neuen Förderperiode (2014-2020) steht die Rolle des ESF in engem Zusammenhang mit der Europa-2020-Strategie, mit der ein „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ angepeilt wird. Konkrete Ziele sind die Erhöhung der Beschäftigungsquote der Bevölkerung zwischen 20 und 64 Jahren von derzeit 69% auf mindestens 75%, die Erhöhung der Investitionen, die Reduzierung des Anteils von Schulabbrecher/innen sowie die Reduzierung des Anteils an Bürger/innen unterhalb der jeweiligen nationalen Armutsgrenze um 25%. Das würde einer Herausführung von 20 Mio. Bürger/innen aus der Armut entsprechen.

Erreicht werden sollte dies auf dem Weg von Initiativen wie der Innovationsunion (Verbesserung der Bedingungen und finanziellen Förderung für F+E Investitionen im Privatsektor), der Initiative „Jugend in Bewegung“ (Verbesserung des Bildungssystems), der Förderung von Arbeitsmobilität und lebenslangem Lernen und nicht zuletzt der Initiative „Europäische Plattform gegen Armut“ zur Gewährleistung sozialer und territorialer Kohäsion.

Zur künftigen Rolle des ESF

Die zukünftige Rolle des ESF wurde in engem Zusammenhang mit der Europa-2020-Strategie definiert: seine Fördermöglichkeiten sollen strikt an dieser Gesamtstrategie ausgerichtet werden und vor allem auf drei Bereiche fokussieren: Beschäftigung, Bildung und Bekämpfung der Armut. Was ist darunter zu verstehen?

Die Interventionsbereiche des ESF wurden im Vorschlag der Kommission zur Verordnung betreffend den ESF folgend umrissen:

  1. Förderung der Beschäftigung und Unterstützung der Mobilität der Arbeitskräfte durch Maßnahmen, die u.a. auf den Zugang zur Beschäftigung für Arbeitssuchende, auf die dauerhafte Eingliederung von jungen Menschen, auf die Gleichstellung der Geschlechter, auf die Anpassung der Arbeitskräfte und Unternehmen an den Wandel  abzielen;
  2. Investitionen in Bildung, Kompetenzen und lebenslanges Lernen durch Maßnahmen wie Verringerung der Zahl der Schulabbrecher und Förderung eines gleichen Zugangs zu einer hochwertigen Grund- und Sekundarbildung, die Verbesserung der Qualität, Effizienz und Offenheit der Hochschulen sowie die Förderung des Zugangs zum lebenslangen Lernen und Steigerung der Kompetenzen der Arbeitskräfte abzielen,
  3. Förderung der sozialen Eingliederung und Bekämpfung der Armut durch Maßnahmen wie aktive Eingliederung, Eingliederung marginalisierter Bevölkerungsgruppen (z.B. Roma), Bekämpfung von Diskriminierungen, Verbesserung des Zugangs zu erschwinglichen sozialen Dienstleistungen usw.
  4. Nicht zuletzt zählen zum Interventionsbereich des ESF die Verbesserung der institutionellen Kapazitäten und die Förderung einer effizienten öffentlichen Verwaltung.

Die Mittel des ESF werden für die nächste Förderperiode von bisher 75 Mrd. Euro auf 84 Mrd. Euro aufgestockt. Davon wieder sind mindestens 20% für Tätigkeiten in Bezug auf die soziale Eingliederung und Bekämpfung der Armut vorgesehen. Wie jedoch die deklarierten Förderprioritäten in den Mitgliedsländern umgesetzt werden, wird sich erst in deren jeweiligen konkreten Vorhaben zeigen.

Österreich wird in der neuen Förderperiode weniger ESF Mittel zur Verfügung haben, wobei diese auf die angeführten drei Bereiche konzentriert werden sollen.

Diskrepanzen zwischen Zielen und prioritärer Gesamtausrichtung

Besteht eine Diskrepanz zwischen sozialen Zielsetzungen der EU-2020-Strategie und des ESF auf der einen und der, dominant an wirtschaftlichen Prioritäten orientierten Ausrichtung der EU, die die reale Politik der Mitgliedsstaaten de facto bestimmt, auf der anderen Seite?

Die Absichtserklärungen und Bemühungen der EU um ein „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ und die für 2020 angestrebten Ziele lassen sich dahingehend deuten, dass damit auch die Konkretisierung der Zielsetzungen der sozialen Dimension auf der Agenda der EU und ihres wichtigsten Förderinstruments, des ESF steht. Doch wie steht es um die realen Chancen einer Zielverwirklichung?

Bildet dafür nicht die real neoliberale Ausrichtung der aktuellen EU Politik einen Hemmschuh? Stehen den im Rahmen der EU-2020-Strategie propagierten Zielen nicht Entscheidungen der letzten Jahre wie der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung bzw. der Fiskalpakt entgegen?

Realiter droht der durch den Rat und die Kommission der EU forcierte Austeritätskurs zu langwieriger und struktureller Arbeitslosigkeit zu führen, er steht dem Streben nach integrativem Wachstum und Armutsreduzierung entgegen und würde damit die Zielsetzungen der Europa-2020-Strategie untergraben.

Wie soll die Befreiung von 20 Mio. Menschen aus der Armut erreichbar sein, wenn der Handlungsspielraum für eine Konjunkturpolitik äußerst beschränkt ist? Wie Armutsbekämpfung realisiert werden, wenn die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte durch Sparpolitiken prioritär ist und der diesbezügliche Druck seitens der EU, nicht nur auf die südeuropäischen „Krisenstaaten“ für die reale Entwicklung bestimmend ist – nach dem Motto „Troika für alle“ (Lukas Oberndorfer)? Können die angeführten Ziele mit weniger Mittel erreicht werden – noch dazu bei gleichzeitig – auch in Österreich gestiegenem – Problemdruck?

Die EU war – wie die Kommission in ihrer Bilanz selbst zugab – nicht in der Lage, die Lissabon-Zielvorgaben (wie die Erreichung der Vollbeschäftigung, die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung etc.) zu erreichen. Die Rahmenbedingungen für die Zielerreichung der Europa-2020-Strategie sind nicht günstiger, im Gegenteil: realiter gibt es eine Zuspitzung von Arbeitslosigkeit, des Armutsrisikos und der Verschuldung der öffentlichen Haushalte. Der von der EU Kommission forcierte Austeritätskurs hat sich als erfolglos erwiesen: dieser war nicht Problemlöser, sondern Problemverstärker: das Problem der öffentlichen Verschuldung dauert nicht nur an, sondern hat sich sogar noch verschärft – ebenso wie das der Arbeitslosigkeit und der Armutsrisiken. Es besteht wenig Anlass zu Optimismus hinsichtlich der sozialen Problemlösungskapazität der EU wie auch der Mitgliedstaaten.

Ein Kurswechsel ist notwendig

Ob die Diskrepanz zwischen sozialen Zielen und realer, von wirtschaftlichen Prioritäten gesteuerter Entwicklung der EU die Periode 2014-2020 tatsächlich prägen wird, wird davon abhängen, welche Weiterentwicklung die angepeilte ökonomische Governance nehmen wird: ob die marktbetonte Ausrichtung der EU die soziale Dimension auf Gemeinschaftsebene und in den Mitgliedstaaten erneut in den Schatten stellen wird – oder ob ein Kurswechsel in Richtung Stärkung der sozialen Dimension vollzogen und der finanzielle Handlungsspielraum für sozialintegrative Politiken (wie beispielsweise für die Armutsbekämpfung mit Unterstützung durch den ESF in den Mitgliedsländern) erweitert wird.

Ein positiver Ansatz im Hinblick auf die als Ziel der Europa-2020-Strategie formulierten Teilhabemöglichkeiten ist das Novum der Armutsbekämpfung aus Mitteln des ESF. Das ist wichtig. Doch abgesehen davon, dass dies ein Tropfen auf einem heißen breiten Stein von Problemen ist: Die angepeilten Ziele der Verbesserung der Bedingungen der Beschäftigung, Bildung und Armutsbekämpfung werden ohne einen Kurswechsel in der EU Orientierung nicht erreichbar sein. Ein Kurswechsel wäre nicht zuletzt auch aus Gründen der Legitimation des EU Projektes erforderlich, da dafür die soziale Dimension eine wesentliche Rolle spielt und in Zukunft noch mehr spielen wird. Die EU sieht sich aufgrund verstärkter sozialer Probleme und verbreiteter enttäuschter Erwartungen mit Akzeptanzproblemen konfrontiert. Die EU Wahlen im nächsten Jahr könnten dies schlaglichtartig verdeutlichen.