Der Einfluss des Neoliberalismus auf österreichische Parteiprogramme

29. April 2019

Seit Mitte der 1970er-Jahre kann international ein steigender Einfluss neoliberalen Gedankenguts auf die wirtschaftspolitische Ebene konstatiert werden, obgleich die neoliberale Wende in Österreich erst rund zehn Jahre später einzusetzen begann. Dieses Denken hat seitdem alle größeren Parteien erreicht, wie eine historische Analyse der Grundsatzprogrammatiken von ÖVP, SPÖ, FPÖ und Grünen zeigt.

Der Aufstieg des Neoliberalismus – eine Rückschau

Das Gerüst der neoliberalen Bewegung erwuchs vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise ab 1929 und der damit verbundenen Abwendung vieler politischer und ökonomischer Entscheidungsträger von (wirtschafts-)liberalen Konzeptionen. In jener Zeit formierte sich eine kleine, aber international agierende Gruppe, die um die Erhaltung bzw. Neuausrichtung liberaler Ideen bemüht war. Ein zentraler Angelpunkt war Friedrich August Hayek, der 1947 die Mont Pèlerin Society ins Leben rief, die den Beginn der neoliberalen Bewegung einläutete.

Die wirtschaftspolitische Praxis nach 1945 folgte jedoch zunächst einem keynesianisch geprägten Interventionismus. Der Fokus lag dabei auf realkapitalistischen Verhältnissen und gleichzeitig einem stark regulierten Finanzsektor. Als das System des keynesianischen Fordismus ab Mitte der 1970er-Jahre mit Problemen zu kämpfen hatte, traten die neoliberalen Think Tanks auf den Plan, um das entstandene Machtvakuum mit ihren ausgearbeiteten Konzepten zu füllen. Während der wirtschaftspolitische Fokus in vielen führenden Industrienationen auf ein ausgeglichenes Budget und die Inflationsbekämpfung gelegt wurde, wurde in Österreich mit dem Austrokeynesianismus weiterhin die Strategie einer aktiven staatlichen Wirtschaftsgestaltung verfolgt, wobei das Vollbeschäftigungsziel Priorität besaß. Die neoliberale Wende setzte erst ab Mitte der 1980er-Jahre ein und ist bis heute prägend für das wirtschaftspolitische System.

Parteipolitik unter dem Einfluss des Neoliberalismus

In einer Studie wurden die aktuellen Programme von ÖVP, SPÖ, FPÖ und Grünen den früheren Programmen aus der keynesianischen Epoche gegenübergestellt. Der Vergleich erfolgt anhand der vier Dimensionen: Marktbild, Wirtschaftspolitik, Menschenbild und Wohlfahrtsstaat. Vier zentrale Veränderungen können festgestellt werden:

Trend zu einer marktoptimistischen Sichtweise

Die Marktwirtschaft wird in den Programmen aus der keynesianischen Epoche vermehrt aus einer kritischen Perspektive betrachtet. Besonders bei SPÖ (1978) und Grünen (1986) herrscht eine negative Auffassung des kapitalistischen Wirtschaftssystems vor. Während für die Sozialisten die ausbeuterischen Produktionsbedingungen und die systemische Krisenanfälligkeit im Zentrum der Kritik stehen, thematisieren die Grünen vor allem die Zerstörung der Umwelt. Dabei sehen sie eine prinzipielle Unvereinbarkeit zwischen kapitalistischer Massenproduktion und ökologischer Verträglichkeit. Deutlich positiver äußern sich ÖVP (1972) und FPÖ (1973), wenngleich die Notwendigkeit einer politischen Steuerung akzeptiert wird. Das kapitalistische System wird zudem nicht unter rein ökonomischen Gesichtspunkten wahrgenommen, sondern auch für den Aufbau wohlfahrtsstaatlicher Infrastruktur herangezogen.

In den aktuellen Programmen lässt sich ein parteiübergreifender Trend hin zu einer marktoptimistischen Sichtweise erkennen. Der Markt wird dabei in allen Fällen als effizientestes Instrument zur wirtschaftlichen Koordination wahrgenommen. Begleitet wird dieses Denken von einem Staatsskeptizismus, der vor allem bei ÖVP (2015) und FPÖ (2005) ausgeprägt ist. Allgemein wird darauf vertraut, dass das marktbasierte Wirtschaftssystem die richtigen Anreize zur Förderung von Leistungsbereitschaft, Wachstum und damit letztendlich auch Wohlstand setzt. Dem Markt werden somit weitgehend positive Eigenschaften zugesprochen. Die größten Veränderungen traten bei der SPÖ (1998) auf. Während zuvor die Krisenanfälligkeit kritisiert wurde, sind es nun Marktkräfte, die für Prosperität sorgen. Allerdings sehen SPÖ und Grüne (2001) die Grenzen dieses Mechanismus bei Verteilungsfragen erreicht.

Wettbewerbssichernde Wirtschaftspolitik

Aus dem zugrunde liegenden Marktbild werden die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen abgeleitet. Gemeinsam ist allen Parteien, dass sie dem Staat weitreichende Gestaltungskompetenzen einräumen. SPÖ und Grüne streben dabei angesichts der Fehlentwicklungen des Kapitalismus eine umfassende Systemtransformation nach sozialistischen bzw. ökologischen Prinzipien an. ÖVP und FPÖ bekennen sich grundsätzlich zur Marktwirtschaft, befürworten zugleich aber steuernde Eingriffe in den Wirtschaftsprozess zur Systemstabilisierung. Die konkreten wirtschaftspolitischen Maßnahmen sind an vielfältigen Zielsetzungen ausgerichtet (z. B. Vollbeschäftigung, Preisstabilität, Wachstum, Wettbewerbssicherung, Verteilungsgerechtigkeit). Entsprechend breit werden die staatlichen Instrumentarien gefasst, die mitunter auch nachfrageorientierte Maßnahmen (Konjunkturpolitik) einschließen.

Verbunden mit dem gestiegenen Marktoptimismus, änderte sich in den aktuellen Programmen auch die Form der Wirtschaftspolitik. Obwohl nach wie vor eine gewisse Bandbreite an Zielsetzungen (SPÖ: Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Grüne: ökologische Steuerpolitik) existiert, gibt es mit der Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit nun eine von allen vier Parteien ausgegebene wirtschaftspolitische Maßgabe. Entsprechend fielen keynesianisch angelehnte (Nachfrage-)Konzepte zur Steuerung der Marktwirtschaft hinter einer eher auf Wettbewerbssteigerung ausgerichteten Wirtschaftspolitik zurück. Entsprechende Maßnahmen, welche sich vorwiegend bei ÖVP und FPÖ finden, sehen unter anderem ein leistungsfreundliches Steuersystem, mehr Flexibilisierung und Privatisierungsbestrebungen vor – der Fokus liegt somit auf der Stärkung der Angebotsseite. Bei denselben beiden Parteien ist auch die Vorstellung eines möglichst schlanken Staatskorpus vorhanden.

Ein praktisches Beispiel für anreizbasierte Maßnahmen findet sich in der aktuellen Steuerreform, die gerade von der Regierung geplant wird. Obgleich diese betont, vorwiegend untere und mittlere Einkommensgruppen entlasten zu wollen, scheinen nach derzeitigem Stand zunächst einmal (internationale) Konzerne die Profiteure zu sein. Angedacht ist in diesem Zusammenhang, die Körperschaftsteuer von derzeit 25 Prozent auf etwa 20 Prozent zu senken. Da der Großteil der Klein- und Mittelbetriebe einkommen- und nicht körperschaftsteuerpflichtig ist, geht diese Entlastung zugunsten großer Kapitalgesellschaften.

Eigenverantwortung und Leistungsprinzip

In den früheren Programmatiken werden die Bedingungen der menschlichen Entwicklung weitgehend im Zusammenspiel von Solidarität und Subsidiarität gesehen, wiewohl sich SPÖ und Grüne stärker am Leitprinzip einer solidarischen Gemeinschaft orientieren. Dabei wird die persönliche Selbstverwirklichung von einem funktionierenden Gesellschafts- (SPÖ) bzw. Ökosystem (Grüne) abhängig gemacht. Während die ÖVP ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den beiden leitenden Gedanken vertritt, führt die FPÖ Selbstverwirklichung primär auf die Abwesenheit staatlicher Zwänge zurück. Die menschliche Arbeitswelt wird nur teilweise unter materiellen Gesichtspunkten (Profit, Wachstum) betrachtet. Vielmehr fand sich in allen Programmen die Vorstellung einer Humanisierung der Arbeit wieder, die vor allem einen sinnstiftenden Charakter besitzen soll. Bei den Grünen gibt es darüber hinaus eine starke Skepsis gegenüber dem Einsatz neuer Technologien.

In Bezug auf die menschliche Selbstverwirklichung gibt es sowohl Konstanz als auch Veränderung. FPÖ (Primat der Eigenverantwortung) und Grüne (ökosoziale Einbettung) behalten im Wesentlichen ihre Standpunkte bei. Bei ÖVP und SPÖ verschieben sich die Grundwerte in Richtung der Stärkung der individuellen Freiheit, wobei insbesondere die Volkspartei an das eigenverantwortliche Lösen aller Angelegenheiten appelliert. Eine einheitlichere Entwicklung gibt es bei der Arbeitswelt, die nun vorwiegend aus ökonomischer Perspektive gesehen wird, gleich ob dabei nun stärker das Leistungsprinzip als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung (ÖVP, FPÖ) oder die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts (SPÖ, Grüne) betont werden.

Dass mit Arbeit heutzutage vornehmlich ökonomische Interessen bedient werden, konnte man vergangenes Jahr im Juni beobachten. Hier ist von der Regierung ein Antrag zur Verlängerung der Höchstarbeitszeit (12-Stunden-Tag, 60-Stunden-Woche) mit dem Argument eingebracht worden, flexibler auf Auftragsschwankungen reagieren und so im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Für ArbeitnehmerInnen ist dieses Gesetz jedoch mit einer Vielzahl an Nachteilen verbunden: Gesundheitsrisiken, Erschwerung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, geringerer Zeitwohlstand.

Reduzierter Sozialstaat, private Vorsorge

Die früheren Programme vermitteln größtenteils das Bild eines leistungsstarken Wohlfahrtsstaats. Das umfassendste System der sozialen Sicherheit findet sich bei den Grünen (erwerbsunabhängige Grundsicherung) und der SPÖ (Freiheit von Not und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben). Auch die ÖVP tritt für eine Sozialpolitik ein, die neben der quantitativen Versorgung auch eine qualitative Verbesserung der Lebensumstände aller BürgerInnen beinhaltet. Die FPÖ spricht sich für eine staatliche Absicherung für Berechtigte aus, warnt aber zugleich davor, dass umfassende Versorgungsleistungen Abhängigkeiten schaffen. Während Grüne und SPÖ soziale Sicherheit als eine vorrangig staatliche Aufgabe verstehen, wird von FPÖ und ÖVP auch auf die private Vorsorge verwiesen.

In den zeitgenössischen Schriften zeigt sich bei allen Parteien, ausgenommen den Grünen, eine klare Tendenz in Richtung einer Reduktion von Leistungsreichweite und -umfang. So ist soziale Sicherung nunmehr stark an das Prinzip der Bedürftigkeit (Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit etc.) gekoppelt. In diesem Sinne ergibt sich eine Zielgruppe von „Berechtigten“, die aufgrund von Notlagen Unterstützungen erhalten. Die staatlichen Leistungen sollen dabei eine existenzsichernde Funktion erfüllen. Damit einhergehend wird von den BürgerInnen eine erhöhte Eigenverantwortlichkeit und die Pflicht zur Privatvorsorge eingefordert. Besonders ausgeprägt ist diese Sichtweise bei der FPÖ (Staat als letztverantwortliche Instanz).

In kaum einem anderen Bereich zeigt sich der neoliberale Zeitgeist so stark wie im Sozialbereich, wo es gegenwärtig zu einem starken Rückbau des Wohlfahrtsstaates kommt. Hierunter fällt die Reform der Mindestsicherung, die für viele LeistungsbezieherInnen eine Verschlechterung mit sich bringt (Haushalte mit zumindest einer volljährigen Person oder mindestens zwei Minderjährigen).

Schlussfolgerungen

Aus der Studie geht hervor, dass der Neoliberalismus über alle Parteien und Ideologien hinweg Verbreitung gefunden hat (Hegemonie). Parteibezogen traten die größten Veränderungen bei der SPÖ hervor, deren derzeitige Programmatik viel stärker in Richtung Marktkonformität ausgerichtet ist als noch in den 1970er-Jahren. Dem Neoliberalismus am Nächsten stehen die Programme von ÖVP und FPÖ. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass neoliberale Denkansätze von Türkis-Blau derzeit in die politische Praxis umgesetzt werden. Mit der (geplanten) Steuerreform, der Arbeitsmarktflexibilisierung und dem Rückbau sozialstaatlicher Leistungen wurden drei Beispiele aufgegriffen, die für den Reformkurs der Bundesregierung stehen.

 

Dieser Blog-Beitrag fußt auf der wissenschaftlichen Publikation Grimm (2018), die in der Zeitschrift Momentum Quarterly erschienen ist.