Deutschland – ein Wundermärchen

18. September 2013

Deutschland gilt als die Wirtschaftslokomotive Europas mit geringer Arbeitslosigkeit, gesunden Staatsfinanzen und robustem Wachstum. Im gegenwärtigen Bundestagswahlkampf wirbt Angela Merkel gern mit diesen Erfolgen. Aber der Glanz entsteht mehr durch den düstern europäischen Hintergrund als durch eigenen Fortschritt. Tatsächlich ist das Wachstum kaum höher als vor zehn Jahren, als man es „den kranken Mann Europas“ nannte. Die stolzen Exportüberschüsse zeugen von verschenktem Konsum und unterlassenen Investitionen in Deutschland, die als Grundlagen künftigen Wachstums fehlen.

Politik und Medien überschlagen sich mit Lobeshymnen auf die deutsche Wirtschaft, seitdem diese sich in den Jahren 2010 und 2011 rasch von dem tiefen Konjunktureinbruch nach der Finanzmarktkrise 2009 erholt hat. Deutschland ist wieder das Wirtschaftswunderland und „der starke Mann Europas“. Dass es als eines der wenigen Länder der Eurozone von der Staatsschuldenpanik und den hektischen Austeritätsprogrammen samt ihren katastrophalen Folgen verschont blieb, verstärkt diesen Eindruck noch. Dieses Image kontrastiert scharf mit dem Deutschlandbild, das vor gut zehn Jahren Politik und Medien beherrschte, als das Land als der kranke Mann Europas galt. Aber hat sich tatsächlich Deutschlands Wirtschaft so dramatisch erholt oder hat sich durch die Krise nur die Messlatte, also die Lage in vielen anderen OECD-Staaten, gesenkt?

Die Stimmung ist besser als die Lage

Vergleicht man die wirtschaftliche Lage heute mit der vor etwa zehn Jahren, so fallen zwei deutliche Verbesserungen auf: Die Arbeitslosenquote ist gegenwärtig niedriger (etwa sieben Prozent gegenüber um zehn Prozent vor zehn Jahren) und der Staatshaushalt nahezu ausgeglichen. Die Zahl der Arbeitslosen ist um etwa 1,4 Millionen gesunken und die Anzahl der Beschäftigten um ca. 2,5 Millionen gewachsen, da die Zahl der Erwerbspersonen ebenfalls stark zunahm. In einem dritten Bereich, dem Wirtschaftswachstum, fällt die Verbesserung deutlich schwächer aus. Zwar gab es in den Jahren 2002/03 kein Wachstum, aber 2012 und 2013 dürften die Raten auch spürbar unter einem Prozent liegen. Aber auch hinter diesen erfreulichen Entwicklungen verbergen sich teilweise Probleme, auf die unten noch einzugehen ist.

In vielen anderen Bereichen hat sich das Bild ohnehin noch weniger verbessert bzw. sogar verschlechtert. Die Preisstabilität ist weitgehend unverändert, wenn man von den Vermögenspreisen (Immobilien, Aktien) absieht. Letztere haben zugenommen, was die Bewunderer der deutschen Wirtschaft als Zeichen ihrer Stärke deuten. Investitionen und Exportwachstum schwächeln dagegen. Die Einkommensverteilung ist in den letzten fünfzehn Jahren deutlich ungleicher geworden. Der Niedriglohnsektor hat sich stark ausgedehnt.

Was erhöht dann die Stimmung? Es sind im Kern weniger die guten Nachrichten aus Deutschland als die schlechten aus dem Ausland. Das von Politik und Medien geprägte gesellschaftliche Bewusstsein misst sich offensichtlich mehr im Vergleich mit anderen Ländern als mit der eigenen Vergangenheit oder unabhängig gesetzten Zielen.

Aber auch ein solcher Vergleich ist keineswegs eindeutig. Deutschland wächst jenseits aller konjunkturellen Schwankungen und trotz aller Exporterfolge seit 2000 weiter eher langsam. Erst in diesem Jahr wird die deutsche Wirtschaft gegenüber dem Jahr 2000 stärker gewachsen sein als die EU insgesamt – aber nur deshalb, weil Europa insgesamt sich von der Krise immer noch nicht erholt hat. Gegenüber den USA war die Dynamik der deutschen Ökonomie hingegen sowohl vor als auch nach der Krise schwächer.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Der deutsche Arbeitsmarkt: wunderbar oder wunderlich?

Während in fast allen Ländern die Arbeitslosigkeit im Zuge der Großen Rezession zunahm, blieb sie in Deutschland dank umfangreicher Kurzarbeit und Abbau von Zeitkonten nahezu stabil und ging im Aufschwung bald weiter zurück. Aber beachtlicher ist die eingangs schon erwähnte Zahl neu geschaffener Arbeitsplätze. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass das Arbeitsvolumen insgesamt deutlich weniger gestiegen ist.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Der Beschäftigungszuwachs lässt sich im Kern darauf zurückführen, dass Vollzeitarbeitsplätze in Arbeitsplätze mit einem geringeren Stundenvolumen (oftmals prekäre geringfügige Beschäftigungsverhältnisse) zerlegt wurden, was zwar eventuell einzelbetrieblich Kosten senkt und Flexibilität erhöht, aber letztlich den Output nur in dem Maße steigert, wie die Produktivität zunimmt.

Die schwache Entwicklung des Arbeitsinputs ist eine Hauptursache des wenig berauschenden Wachstums. Die zweite Hauptursache ist das – auch im internationalen Vergleich – ebenfalls geringe Wachstum der Stundenproduktivität.

Der deutsche Erfolg: scheinbar oder unscheinbar?

Angesichts hoher Staatsverschuldung und hartnäckigen Defiziten in vielen OECD-Ländern erscheint der deutsche Haushalt ein Wunder an Stabilität. Zwar sind die Schulden dank der Krisenkosten seit 2008 stark gestiegen – um etwa 20 Prozent des BIP. Aber das positive BIP-Wachstum und die sinkende Neuverschuldung hat die Schuldenquote (Schulden/BIP) ab 2011 leicht sinken lassen, auch wenn Deutschland weiter neue Schulden macht. Die niedrigen Zinsen und die steigenden Steuereinnahmen tragen zur Konsolidierung bei.

Allerdings kann von Sparen weder im Sinne von Ausgabenkürzungen (was populär fälschlich als „Sparen“ bezeichnet wird) noch gar im Sinne eines nominellen Schuldenabbaus die Rede sein. Das ist volkswirtschaftlich betrachtet auch gut so. Denn bei wirklichem staatlichen Sparen fiele das Wachstum noch schwächer aus. In Deutschland sparen nicht nur die vermögenden Haushalte, sondern auch in zunehmendem Maße die finanziellen und nicht-finanziellen Unternehmen. Weder die Unternehmen noch der Staat nutzen also die Spielräume, um in Bildung, Innovation oder Infrastruktur zu investieren. Das führt zum einen zu nachlassendem Produktivitätswachstum; Und da die deutschen Ersparnissen im Inland nicht absorbiert werden, bleibt nur das Ausland als Anlagesphäre über.

Diesem inländischen Konsum- und Investitionsdefizit entspricht auch der Exportüberschuss, der der realwirtschaftliche Ausdruck des Kapitalexports ist. Dabei ist der scheinbare Wohlstand, der in Form von Auslandsforderungen angehäuft wird, leicht vergänglich. Wie eine Studie zeigt, ging etwa ein Fünftel des so angesparten deutschen Auslandsvermögens in der Krise verloren. Statt in den deutschen Kapitalstock zu investieren oder durch anständige Löhne mehr Konsum zu ermöglichen, haben die reicheren SparerInnen den Gegenwert der Mehrproduktion und damit wichtige Wachstums- und Beschäftigungsmöglichkeiten verspielt.

Dieser Beitrag basiert auf einer längeren Version, die in der Reihe „wiso direkt“ veröffentlicht wurde.