Der europäische Mindestlohn kommt – nur wie?

17. August 2020

Am 3. Juni 2020 veröffentlichte die Europäische Kommission ein zweites Konsultationspapier über mögliche Maßnahmen zur Einführung gerechter Mindestlöhne in den EU-Staaten. Darin bleibt jedoch weiterhin offen, was genau unter „gerechten Mindestlöhnen“ zu verstehen ist und wie sie garantiert werden können. Zur Sicherstellung eines gerechten Mindestlohns sollte eine europäische Richtlinie vorgeben, dass mindestens 60 % des nationalen Medianlohns und 50 % des nationalen Durchschnittslohns erreicht werden, ergänzt um eine Stärkung der Kollektivverträge.

Klares Bekenntnis zu einem europäischen Mindestlohn

Mit dem Konsultationspapier leitet die Kommission die zweite Phase der offiziellen Konsultation von europäischen Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbänden im Zuge der im Januar 2020 begonnenen Initiative ein. Nach Abschluss der Konsultationsphase Anfang September wird die EU-Kommission im Herbst dann einen Vorschlag für ein entsprechendes Rechtsinstrument vorlegen. Das Festhalten der Europäischen Kommission an ihrer Initiative zur Einführung gerechter Mindestlöhne in Europa ist ein wichtiges politisches Zeichen, da insbesondere von Arbeitgeberseite jegliche Form einer europäischen Regelung abgelehnt wird. Gerade aber im Kontext der COVID-19-Krise ist die Sicherstellung existenzsichernder und armutsfester Mindestlöhne von besonderer Bedeutung. Der jüngst publizierte Beschäftigungsbericht der OECD zeigt eindrücklich, dass GeringverdienerInnen besonders stark von der COVID-19-Krise betroffen sind – inklusive vieler der im Kontext der Pandemie als „systemrelevant“ gefeierten Beschäftigten. Angesichts der weithin anerkannten gesamtgesellschaftlichen Bedeutung dieser Beschäftigten wäre es angebracht, diesen nicht nur Applaus zu spenden, sondern sie durch eine substantielle Lohnerhöhung auch angemessen zu bezahlen. Eine europäische Mindestlohnregelung kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten.

Ziele der Kommissionsinitiative

Nach Jahren der politischen Diskussion ist aktuell die zentrale Frage nicht mehr, ob eine europäische Mindestlohnregelung eingeführt wird, sondern in welcher Form. Neben der konkreten Rechtsform – eher unverbindliche Empfehlung, verbindliche Richtlinie oder eine Kombination aus beidem – fokussiert sich die Diskussion vor allem auf die folgenden vier Punkte: das Niveau des Mindestlohns, seine Reichweite (angesichts zahlreicher Ausnahmeregelungen in vielen Ländern), die Verfahren und Kriterien seiner regelmässigen Anpassung sowie die Beteiligung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden an der Festlegung des Mindestlohns. Das Ziel der Kommission besteht darin, im Hinblick auf alle vier Punkte gemeinsame europäische Standards zu entwickeln, die in allen EU-Staaten die Durchsetzung angemessener Mindestlöhne fördern. Angesichts der großen Unterschiede in Europa geht es der Kommission explizit weder um die Einführung eines einheitlichen europäischen Mindestlohnbetrags noch um die Harmonisierung existierender Mindestlohnregime.

Konkret bedeutet dies, dass Länder mit einer kollektivvertraglichen Mindestlohnsicherung wie zum Beispiel Österreich, aber auch die nordischen Länder Dänemark, Finnland und Schweden sowie Italien und Zypern nicht gezwungen werden, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Die Grundidee besteht vielmehr darin, auf europäischer Ebene gemeinsame Kriterien für gerechte Mindestlöhne zu definieren, die dann auf nationaler Ebene entsprechend dem dort geltenden Niveau und den traditionell gewachsenen Systemen der Lohnfestsetzung umgesetzt werden. Im Kern besteht die Herausforderung darin, Kriterien für ein angemessenes Mindestlohnniveau zu definieren, das armutsfest und existenzsichernd ist.

Was ist ein gerechter Mindestlohn?

Die Kommission definiert in ihrem Konsultationspapier nicht, was sie unter einem gerechten Mindestlohn versteht. Sie stellt lediglich klar, dass dieser einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen sollte. Als pragmatischer Ansatz hat sich in der politischen Debatte für die Festlegung eines angemessenen Mindestlohns eine Orientierung am sogenannten Kaitz-Index durchgesetzt. Der Kaitz-Index ist ein Maß für den relativen Wert des Mindestlohns im Verhältnis zum nationalen Lohngefüge.

Als Indikator für die Angemessenheit von Mindestlöhnen bietet der Kaitz-Index zahlreiche Vorteile. Er ist leicht zu ermitteln und zu kommunizieren. Er ist in der international vergleichenden Mindestlohnforschung als Indikator bereits anerkannt und er trägt den großen Unterschieden im absoluten Mindestlohnniveau Rechnung, das in der EU von weniger als 2 Euro in Bulgarien bis zu mehr als 12 Euro in Luxemburg variiert.

Demzufolge gilt ein Mindestlohn dann als angemessen, wenn er bei mindestens 60 % des nationalen Medianlohns liegt. In Analogie zur Armutsforschung ist ein Mindestlohn von 60 % des Medianlohns der Lohn, der es einem/einer einzelnen Vollzeitbeschäftigten ermöglichen soll, unabhängig von den Lebens- und Haushaltsverhältnissen ein Leben in Armut zu vermeiden, ohne auf staatliche Transferleistungen angewiesen zu sein. 2019 erfüllte der gesetzliche Mindestlohn dieses Kriterium nur in vier EU-Mitgliedsstaaten (Bulgarien, Slowenien, Frankreich und Portugal). In allen anderen EU-Staaten mit einem gesetzlichen Mindestlohn sowie Großbritannien lag die Höhe teilweise deutlich unterhalb dieser Schwelle für einen angemessenen bzw. gerechten Mindestlohn:

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Länder mit kollektivvertraglicher Mindestlohnsicherung

Bei Ländern mit einer kollektivvertraglichen Mindestlohnsicherung kann der Kaitz-Index wiederum nur annäherungsweise bestimmt werden, indem die untersten Tariflöhne ins Verhältnis zum nationalen Medianlohn gesetzt werden. In Österreich lag der in den meisten Kollektivverträgen nicht mehr unterschrittene Mindestlohn von 1.500 Euro im Jahr 2018 bei 49,5 % des Medianlohns. Damit liegt der kollektivvertraglich vereinbarte Mindestlohn in Österreich deutlich unterhalb der Marke für einen angemessenen Mindestlohn. Die höchsten Mindestlöhne finden sich in den nordeuropäischen Staaten Dänemark und Schweden, wo die untersten Kollektivvertragslöhne in den Niedriglohnsektoren zwischen 60 und 70 % des Medianlohns ausmachen. In Finnland und Italien variieren die untersten Tariflöhne zwischen 50 und 60 % des Medianlohns, während sie in Zypern in der Regel unter 50 % liegen.

In Österreich sind die Gewerkschaften immer wieder dafür eingetreten, dass ein bestimmter Mindestlohn als unterste Lohngruppe in allen Kollektivverträgen Gültigkeit haben soll. Dies zeigt beispielhaft, dass verbindliche europäische Vorgaben auch mit Systemen einer tariflichen Mindestlohnsicherung kompatibel sind und sich nicht nur auf Länder mit einem gesetzlichen Mindestlohn beschränken müssen.

Differenzierung der Kriterien

Die Tatsache, dass ein Land die Marke von 60 % des Medianlohns erfüllt, bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, dass dort der Mindestlohn einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht. Die Beispiele Bulgarien, Portugal und Rumänien belegen, dass der vergleichsweise hohe am Medianlohn gemessene Kaitz-Index weniger Ausdruck eines angemessenen Mindestlohns ist als vielmehr ein Indikator für das insgesamt niedrige Lohnniveau in diesen Ländern. Der relativ hohe Kaitz-Index ist in diesen Ländern primär das Ergebnis einer stark polarisierten Lohnstruktur mit einer hohen Konzentration von Beschäftigten am unteren Ende des Lohnspektrums. Diese Beispiele zeigen die Notwendigkeit einer weiteren Differenzierung der Kriterien für die Festlegung eines gerechten Mindestlohns.

Da insbesondere in den mittel- und osteuropäischen Ländern üblicherweise nicht der Median-, sondern der Durchschnittslohn als Vergleichsmaßstab für den relativen Wert des Mindestlohns genutzt wird, ist es sinnvoll, den Kaitz-Index zusätzlich auch auf der Grundlage des Durchschnittslohns zu messen (doppelter Kaitz-Index). Dies zeigt sich auch an der Tatsache, dass sich derzeit in zahlreichen mittel- und osteuropäischen Ländern wie zum Beispiel Bulgarien, Estland, Kroatien, Litauen, Polen, Slowakei und Tschechien gewerkschaftliche und politische Mindestlohninitiativen auf den am Durchschnittslohn gemessenen Kaitz-Index beziehen. Eine europäische Regelung, die sich bei der Festlegung der Angemessenheit von Mindestlöhnen auf den doppelten Kaitz-Index bezieht, würde daher auch sehr viel stärker den politischen Realitäten in der EU gerecht werden und die verschiedenen nationalen Initiativen für eine stärkere Erhöhung des Mindestlohns in eine europäische Gesamtstrategie einbinden.

Das doppelte 60-50-Kriterium

Eine zentrale Forderung für die Festlegung europäischer Kriterien für die Angemessenheit von Mindestlöhnen besteht daher darin, dass die Kriterien beide Mindestschwellenwerte – 60 % des Medianlohns und 50 % des Durchschnittslohns – gleichzeitig erfüllen müssen. Basierend auf OECD-Daten für das Jahr 2019 wären folgende prozentuale Mindestlohnsteigerungen pro Land nötig gewesen, um den jeweiligen Mindestschwellenwert zu erreichen:

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Es wird deutlich, dass die Anwendung des doppelten 60-50-Kriteriums mit der Ausnahme von Slowenien und Frankreich in allen EU-Staaten mit einem gesetzlichen Mindestlohn zu einem teilweise beträchtlichen Anstieg des Mindestlohns geführt hätte. Zudem wird deutlich, dass in 12 Ländern das Kriterium 60 % des Medianlohns und in 6 Ländern das Kriterium 50 % des Durchschnittslohns zu Mindestlohnsteigerungen führen würde. In vier Ländern (Großbritannien, Irland, Kroatien, Niederlande) führen beide Kriterien zum gleichen Ergebnis. Dies zeigt, dass die Anwendung des doppelten 60-50-Kriteriums auch zur europaweiten Aufwärtskonvergenz der Mindestlöhne beitragen würde.

Praxistest der Angemessenheit

Obwohl die Anwendung des doppelten 60-50-Kriteriums eine genauere Bewertung der Angemessenheit des Mindestlohns ermöglicht, hat der Kaitz-Index als Indikator auch seine Schwächen. Per definitionem misst er die Angemessenheit eines Mindestlohns nur in Relation zum gesamten Lohngefüge. Damit bleibt das prinzipielle Problem, dass in Ländern mit einem insgesamt niedrigen Lohnniveau – zum Beispiel als Folge einer geringen tarifvertraglichen Abdeckung – auch ein Mindestlohn, der beide Schwellenwerte erfüllt, möglicherweise nicht ausreicht, um einen angemessenen Lebensstandard zu sichern. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, die aufgrund des doppelten Schwellenwertes ermittelten Mindestlöhne einem Praxistest zu unterziehen. Demzufolge müsste das 60-50-Kriterium entsprechend nationaler Kriterien zur Festlegung eines armutsfesten und existenzsichernden Mindestlohns überprüft werden. Dies könnte zum Beispiel anhand eines länderspezifischen unter vollem Einbezug von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden erstellten Korbes von Waren und Dienstleistungen erfolgen. Die übergeordneten Kategorien der Elemente, die in dem Waren- und Dienstleistungskorb zu berücksichtigen sind, sollten auch Teil der europäischen Rahmenregelung sein. Zur Sicherstellung eines gerechten Mindestlohns, der einen angemessenen Lebensstandard garantiert, ergeben sich folgende Anforderungen an die für Herbst 2020 von der Kommission angekündigte europäische Rahmenregelung.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Eine derart ausgestaltete europäische Rahmenregelung würde die Situation zahlreicher Beschäftigter im Niedriglohnsektor verbessern. Sie würde in den EU-Staaten – aber auch grenzübergreifend – Lohnungleichheit und Erwerbsarmut reduzieren. Da zudem mehr Frauen als Männer zu einem Mindestlohn beschäftigt sind, würde eine solche Rahmenregelung auch die geschlechtsspezifische Lohnungleichheit reduzieren. Auch aus ökonomischer Sicht wäre eine derartige europäische Rahmenregelung gerade im Kontext der COVID-19-Krise von Bedeutung, da die wirtschaftliche Erholung nicht nur umfangreiche Investitionen, sondern auch die Förderung der privaten Nachfrage erfordert. Insofern wäre die baldige Umsetzung der europäischen Initiative zur Schaffung gerechter Mindestlöhne entlang der genannten Kriterien aus sozialer, politischer und auch ökonomischer Sicht ein wichtiger Baustein einer umfassenden Strategie zur Bewältigung der aktuellen Krise.

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