Das Recht, nicht gehen zu müssen

07. Juni 2021

Korruption, Armut und diktatorische Regime gelten gemeinhin als Gründe für Fluchtmigration. Eine solche Perspektive verstellt jedoch den Blick auf die globalen Zusammenhänge: Klimakrise und asymmetrische Nord-Süd-Verhältnisse werden als Ursachen kaum thematisiert. Eine neue Studie zeigt jetzt auf, wieso Fluchtursachenbekämpfung aus einer globalen Perspektive verstanden werden muss und wie der Diskurs in Richtung sozial-ökologischer Transformation verschoben werden kann.

Globale Gerechtigkeit und Migration

In der Krise des europäischen Grenzregimes im Sommer 2015 sind die Herausforderungen der europäischen Migrationspolitik offensichtlich geworden: Erstens führt eine auf Abwehr ausgerichtete Politik zu eklatanten Menschenrechtsverletzungen. Zweitens scheitert sie angesichts der Eigensinnigkeit der Fluchtmigrationsbewegungen und globaler Ungleichheit stets aufs Neue, und drittens beharrt eine solche Politik auf der Verweigerung von Mobilität für einen Großteil der Weltbevölkerung.

Wir gehen mit unserer Studie „Das Recht, nicht gehen zu müssen. Eine Analyse der europäischen Fluchtursachenbekämpfung im Kontext globaler Ungleichheit“ der Frage nach, wie eine nachhaltige und auf die Menschenrechte gestützte Migrationspolitik möglich ist. Wir knüpfen an eine zentrale Forderung an, die sowohl von Staatschefs als auch von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und migrantischen AktivistInnen vertreten wurde und die im Sommer 2015 eine Hochkonjunktur erlebte: die Forderung nach der „Bekämpfung von Fluchtursachen“. Darin kommt die notwendig globale Dimension heutiger Gerechtigkeitspolitiken zum Ausdruck: Migrations- und Fluchtbewegungen fordern den Widerspruch zwischen der Universalität der Menschenrechte einerseits und der territorial begrenzten Verantwortung von Staaten andererseits in aller Deutlichkeit heraus.

Vorherrschende Deutung: Ausblendung globaler Zusammenhänge

Doch die vorherrschende Deutung von Fluchtursachen und deren Bewältigung, die sich in den letzten Jahren durchgesetzt hat, trägt nichts zur Lösung der globalen Frage bei. Stattdessen wird genau diese globale Dimension de-thematisiert.

Wie wir im ersten Teil der Studie herausarbeiten, werden Fluchtursachen nämlich einseitig in den Herkunftsländern von Geflüchteten verortet und auf dort bestehende Korruption, diktatorische Regime und grassierende Armut zurückgeführt. Diese verkürzte Perspektive bezeichnen wir als „internalistisch“. Verhinderung von Migration um jeden Preis, nicht globale Gerechtigkeit rückt in den Vordergrund, und strukturelle globale Ungleichheitsverhältnisse werden ausgeblendet. Genau dieser Typus von Migrationspolitik muss heute als gescheitert angesehen werden. Weder werden tatsächlich Perspektiven vor Ort geschaffen, noch lassen sich Migrationsbewegungen verhindern. Die Studie zeichnet nach, wie sich die internalistische Perspektive bereits in den Debatten auf UN-Ebene in den 1980er-Jahren durchsetzte und sich in die europäische Migrationspolitik in den 1990er-Jahren einschrieb. In den Turbulenzen des Jahres 2015 öffnete sich dann für einen kurzen Augenblick eine neue Perspektive, die eine Chance auf realistische Veränderungen bot. Diese Perspektive ist immer noch im Diskurs über die Fluchtursachen präsent. Daher knüpfen wir daran an.

Perspektive ändern: Fluchtursachen und globale Ungleichheit

Denn trotz dieser sehr wirkmächtigen und vorherrschenden Deutung von Fluchtursachen (und deren Bekämpfung) halten wir eine kritische Intervention in den Diskurs und einen Perspektivwechsel für möglich und geboten. In diesem Perspektivwechsel besteht der zweite Teil der Studie. Bezugnehmend auf Ergebnisse wissenschaftlicher Studien und Konzepte zu globalen Ungleichheitsverhältnissen zeigen wir auf, wie sich der vorherrschende Fluchtursachendiskurs in die wirkmächtigen Alltagspraxen des Produzierens und Konsumierens einer nicht nachhaltigen Lebensweise in Europa einfügt. Damit wird eine grundlegende Voraussetzung de-thematisiert: dass diese Lebensweise auf der Externalisierung ihrer sozialen und ökologischen Kosten beruht und so das asymmetrische Nord-Süd-Verhältnis stabilisiert. Wir führen daher dieses Verhältnis als grundlegende Prämisse in die migrationspolitische Debatte ein: Von Fluchtursachen zu sprechen verlangt, die darin eingelassenen tieferliegenden, historischen und strukturellen Zusammenhänge in den Blick zu nehmen.

Ursachenkomplex Klimaerhitzung

Im Wissen darum, dass Fluchtursachen immer als Teil eines Ursachenbündels zu verstehen sind, nimmt die Studie zwei Ursachenkomplexe in den Blick: zum einen die globale Klimakatastrophe als Ausdruck der Ausbeutung der Natur und die Ungleichheit fördernde Handelspolitik. Das Thema Klimaflucht wird differenziert betrachtet: Zum einen ist Fluchtmigration eine wichtige Strategie, um der zunehmenden Zerstörung von Lebensgrundlagen insbesondere im globalen Süden durch die globale Klimaerhitzung zu entkommen. Allen voran als Binnenflucht ist sie eine dramatische Realität. Gleichzeitig wird Klimaflucht in der Debatte häufig als Sicherheitsbedrohung für den globalen Norden dargestellt, anstatt ursächliche Zusammenhänge zu benennen und politisch zu adressieren (siehe u. a. hier und hier).

Darüber hinaus müssen die Klimakatastrophe und durch sie verursachte Fluchtbewegungen stets in Verbindung mit globaler Ungleichheit und den darin eingeschriebenen sozialen, ökonomischen und politischen Prozessen verstanden und adressiert werden. Erst so kann die notwendige Politisierung der Debatte um Klimaflucht erreicht werden. Es wird schließlich auf empirische Forschung verwiesen, die aufzeigt, wie die Verursacher*innen und Leidtragenden des Klimawandels sozial-räumlich auseinanderfallen und globale Klassenverhältnisse in die Analyse einzubeziehen sind (siehe u. a. hier, hier und hier). Trotz der äußerst ungleich verteilten gesellschaftlichen Machtressourcen sind es auch die allgemeinen Alltagspraxen im globalen Norden sowie zunehmend der Ober- und Mittelschichten der Schwellenländer, welche die Stabilität der bestehenden Produktions- und Lebensweise ermöglichen.

Ursachenkomplex Ungleichheit fördernde Handelspolitik

Neben der Klimaerhitzung stehen europäische Handelspolitiken im Fokus, in denen sich das Fortwirken (post-)kolonialer Abhängigkeiten manifestiert. Mit einem Schwerpunkt auf die Liberalisierung des Agrarhandels seit Gründung der WTO (1995) und die neuen bilateralen Freihandelsabkommen der EU in Form der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen gehen wir den Auswirkungen von Handelsliberalisierungen auf die Lebensbedingungen von Menschen im globalen Süden nach. Entgegen der unter anderem von der EU-Kommission vertretenen These, dass Handelsliberalisierungen zu zunehmender Beschäftigung führen, zeigen Studien genau das Gegenteil: Die Auswirkungen der Liberalisierungen in den EPAs werden voraussichtlich negative Auswirkungen auf die Produktion und Beschäftigung in den AKP-Staaten haben (siehe hier). Auch ein Verlust wichtiger staatlicher Einnahmen durch den Wegfall von Importzöllen ist vorprogrammiert (siehe hier). Es lässt sich zeigen, wie Freihandelspolitiken unter anderem zwischen Europa und afrikanischen Staaten vielmehr bestehende Ungleichheiten verschärfen, zu einer Deindustrialisierung sowie zu Verdrängungsprozessen aufgrund der hoch subventionierten und agroindustriell intensivierten EU-Landwirtschaft führen. Die Folge ist eine existenzgefährdende Perspektivlosigkeit für lokale Produzent*innen (siehe u. a. hier und hier). Fluchtmigration wird vor diesem Hintergrund zu einer Strategie des Entkommens.

Die Analyse zeigt, dass durch die europäische Handelspolitik die Exportabhängigkeit bei Rohstoffen und Agrargütern zahlreicher Staaten im globalen Süden reproduziert wird, anstatt diese Abhängigkeiten durch eine Förderung regionaler Handelsmodelle zu durchbrechen und eine stärkere Wertschöpfung in den jeweiligen Staaten zu fördern. Die Beispiele der Klimaerhitzung und Handelspolitiken eröffnen mit den Konzepten der Klimagerechtigkeit respektive der Ernährungssicherheit und Verwirklichung sozialer Rechte Perspektiven, die auf die Notwendigkeit einer sozial-ökologisch-ökonomischen Transformation verweisen.

Verschränkung von Fluchtursachen: Syrien und Nigeria als regionale Schlaglichter

Neben diesen Ursachenkomplexen verdeutlichen zwei regionale Beispiele die komplexe Verschränkung historischer, struktureller und akuter Ursachen und Gründe. Dem Schwerpunkt der Studie auf dem afrikanischen Kontinent folgend, werfen wir ein erstes Schlaglicht auf die Flucht- und Migrationsrealitäten in Nigeria. Wir beschreiben die soziale, ökologische und ökonomische Realität im Land und die postkolonialen Verbindungslinien zwischen Nigeria und Europa, auf die eben jene Realitäten verweisen. Mit Syrien betrachten wir das Land näher, aus dem im letzten Jahrzehnt die meisten Geflüchteten nach Europa gelangt sind. Hier steht die Frage nach den sozial-ökologischen Ursachen im Vordergrund, die im komplexen Zusammenspiel mit der Repression durch das autoritäre Assad-Regime und mit anderen sozioökonomischen Faktoren den Boden für den brutalen Bürgerkrieg im Land mitbereiteten.

Sozial-ökologische Transformation und das Recht, nicht gehen zu müssen

Die Studie schließt mit einem Ausblick darüber, wie Fluchtursachenbekämpfung so gewendet werden kann, dass sie an den globalen Verhältnissen ansetzt. Ein solches Verständnis lässt sich in der Forderung nach dem „Recht, nicht gehen zu müssen“, ausdrücken. Nicht zuletzt für Vertretungen von Arbeitnehmer*innen im globalen Norden besteht die Gelegenheit, den Fluchtursachendiskurs in Richtung einer sozial-ökologischen Transformation zu verschieben. Konkrete Ansatzpunkte identifizieren wir zum einen auf der Ebene gewerkschaftlicher Organisierung, wo die transnationale Organisierung entlang von Wertschöpfungsketten wichtige Impulse setzen kann (siehe u. a. hier und hier).

Zum anderen können Vertretungen von Arbeitnehmer*innen als politische Akteur*innen wichtige Beiträge im öffentlichen Diskurs leisten. Hier skizzieren wir mögliche Handlungsfelder, die exemplarisch Perspektiven auf die sozial-ökologische Transformation und damit für „das Recht, nicht gehen zu müssen“, eröffnen. Diese umfassen: Wertschöpfungs- bzw. Lieferketten, Klimapolitik, Handelspolitik, Zeitwohlstand, Waffenexporte sowie die Anregung zur Gründung eines gewerkschaftlichen Instituts für sozial-ökologische Transformation. Mit diesen Initiativen kann ein wichtiger Beitrag dazu geleistet werden, das Thema Fluchtmigration von Menschen mit Fragen globaler Ungleichheit, Krieg und Klimakatastrophe zu verknüpfen und deutlich zu machen, dass unter der Aufrechterhaltung dieser Verhältnisse und der Spaltung der Gesellschaft große Teile der Weltbevölkerung leiden. Die Zäsur, die (supra-)staatliche Grenzen in die Arbeiter*innenklasse und Gesellschaft einführen und vor allem transnational agierenden Unternehmen Kosteneinsparung und Profitsteigerung ermöglichen, kann dann durch solidarische gewerkschaftliche Praxen und politische Interventionen herausgefordert werden.

Alle Informationen und Materialien zur Studie und Initiative „Das Recht, nicht gehen zu müssen – Europäische Politik und Fluchtursachen“ werden laufend auf Europäische Politik und Fluchtursachen | Arbeiterkammer Wien aktualisiert.

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