Armutsmessung durch Referenzbudgets – eine sinnvolle Alternative?

02. Juli 2021

Die meisten Menschen haben eine konkrete Vorstellung davon, was arm sein bedeutet. Wie sich Armut am besten messen lässt, ist aber weniger klar. In Österreich werden seit Jahren die Daten von EU-SILC herangezogen, um die Armutsgrenze zu ziehen. Auf der anderen Seite zeigen die sogenannten Referenzbudgets, wie viel Geld zumindest nötig ist, um in unserer Gesellschaft leben zu können, ohne in grundlegenden Bereichen ausgeschlossen zu sein. Beide Zugänge haben ihre Vorteile. Welcher ist besser? Wäre Armutsmessung über Referenzbudgets vielleicht sinnvoller?

Zuletzt galten laut EU-SILC in Österreich etwa 1,22 Mio. Menschen als armutsgefährdet. Armutsgefährdung bedeutet nach diesem Konzept, dass jemand über weniger als 60 Prozent dessen verfügt, was diejenigen zur Verfügung haben, deren Einkünfte sich genau in der Mitte der Verteilung der Einkommen und Sozialleistungen befinden (Medianeinkommen). Aktuell sind das 1.328 Euro für Alleinstehende. Referenzbudgets weisen für Österreich für diese Menschen einen Betrag von 1.459 Euro aus. Diese knapp 120 Euro können entscheidend sein.

Teilhabe messen durch Referenzbudgets?

Die Aufgabe von Referenzbudgets ist es, Menschen in schwieriger finanzieller Situation eine Einschätzung ihrer Ausgaben zu geben. Sie werden in Österreich von der ASB, dem Dachverband der staatlich anerkannten Schuldnerberatung, erstellt und verstehen sich als Orientierungshilfen, nicht als fixe Grenze. Sie zeigen die finanzielle Untergrenze dessen, was es braucht, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Sie sind im Zuge eines europaweiten Projektes entstanden und werden seitdem auf Basis lokaler, in Österreich erhobener Zahlen jährlich aktualisiert. Statistische Daten zum Ausmaß von Armut zu liefern ist nicht ihre Aufgabe.

Die Höhe der durchschnittlichen Ausgaben hängt von der Haushaltskonstellation ab. Deshalb gibt es für verschiedene Haushaltsgrößen verschieden hohe Referenzbudgets. So sind die durchschnittlichen Mietausgaben einer vierköpfigen Familie (928 Euro) höher als die einer alleinstehenden Person (530 Euro). Ähnlich verhält es sich mit Ausgaben für Nahrungsmittel, Kleidung oder Nachmittagsbetreuung von Schulkindern (siehe Tabelle).

Referenzbudgets ab 2020
Fixe Ausgaben Einpersonen-HaushaltPaar, 2 Kinder (7 + 14 Jahre)
 Miete und Betriebskosten530928
 Strom (inkl. Warmwasser)3586
 Heizung (Gas, Fernwärme)4273
 Öffentlicher Verkehr86200
 Kraftstoff, Reparaturen, Service – –
 Garage, Parkgebühren – –
 Haftpflichtversicherung, Steuer – –
 Telefon (FN + Mob), Internet, Kabelfernsehen4868
 Rundfunkgebühren2525
 Haushaltsversicherung914
 Schulkosten (inkl. Materialien)140
 Nachmittagsbetreuung192
 Andere Ausgaben: z. B. Mitgliedsbeiträge, Abonnements, Nachhilfe
  
Unregelmäßige Ausgaben   
 Kleidung, Schuhe53249
 Möbel, Ausstattung75129
 Gesundheit(svorsorge)37108
 Soziale und kulturelle Teilhabe137470
  
Haushaltsausgaben   
 Nahrungsmittel (inkl. Snacks)343927
 Reinigungsmittel715
 Körperpflege32100
 Taschengeld für Kinder32
 Sonstiges (Rauchwaren, Haustier, …)
 Gesamtausgaben1.459 3.756
Armutsgefährdungsschwelle 1.3283.054
Quelle: Schuldnerberatung.at

EU-SILC misst die Einkommensverteilung

EU-SILC (European Statistics on Income and Living Conditions) wird von Statistik Austria erhoben und misst die Verteilung der Einkommen einer Gesellschaft. Darunter fallen Erwerbseinkommen, aber auch Sozialleistungen, wie Pensionen, Arbeitslosengeld und Notstandshilfe, Familienbeihilfe, Mindestsicherung (bzw. Sozialhilfe) oder auch Wohnbeihilfe und Pflegegeld. Wer weniger als 60 Prozent des Median-Einkommens (Durchschnitt der Einkommensverteilung in einem Land) zur Verfügung hat, gilt als armutsgefährdet. Das bedeutet, dass verfügbare finanzielle Mittel verglichen werden. Darüber, ob dieses Geld dafür ausreicht, die Güter und Dienstleistungen kaufen zu können, die notwendig sind, um am Leben in unserer Gesellschaft einigermaßen teilhaben zu können, sagt das jedoch nichts aus.

Als anschauliches Beispiel sei eine Gesellschaft beschrieben, in der sich lediglich das reichste Drittel Dinge wie Urlaub, Auto fahren oder neue Haushaltsgeräte leisten können. Alle anderen Personen können das nicht. In einer solchen Gesellschaft würden – laut der Definition von EU-SILC – trotzdem nur diejenigen als armutsgefährdet gelten, die weniger als 60 Prozent des Medianwerts zur Verfügung haben. Dabei spielt es keine Rolle, dass in unserem Beispiel nur das reichste Drittel der Bevölkerung sich ein Leben ohne große finanzielle Einschränkungen leisten kann. Denn hier würde die Armutsgefährdungsgrenze weit unter dem Referenzbudget liegen.

EU-SILC sagt übrigens auch nichts darüber aus, wie Vermögen verteilt sind. Und die Vermögensverteilung in Österreich ist – bei Weitem – ungleicher als die Einkommensverteilung!

Um keine Missverständnisse zu erzeugen: EU-SILC ist eine sinnvolle und wichtige Datenquelle. Es ist unsere einzige Möglichkeit, die Einkommen von Haushalten zu vergleichen und nicht bloß von Personen. Nur so können wir ein Bild über die finanzielle Situation von Familien bekommen. Denn die finanzielle Situation beispielsweise einer Person, die 20 Stunden die Woche in einer vergleichsweise schlecht bezahlten Teilzeitposition arbeitet, ist abhängig davon, ob es in ihrem Haushalt noch andere Einkommen gibt und wie hoch die sind.

EU-SILC enthält u. a. auch Informationen darüber, wie viele Menschen aus finanziellen Gründen auf notwendige Arztbesuche, wichtige Anschaffungen oder das Ersetzen abgetragener Kleidung verzichten müssen. Wie viel Geld dafür notwendig ist, wird jedoch nicht erhoben.

Referenzbudgets oder Armutsgefährdung nach EU-SILC – eine Übersicht

Ob Referenzbudgets oder die Armutsmessung mithilfe von EU-SILC die sinnvollere Herangehensweise ist, hängt von der Fragestellung ab. Sollen mit Blick auf die Betroffenenzahlen politische Entscheidungen gegen Armut getroffen werden, muss EU-SILC herangezogen werden. Wenn es aber darum geht, sich ein Bild darüber zu machen, mit welchem Betrag ein Leben in Österreich möglich ist, ohne von grundlegenden Leistungen ausgeschlossen zu sein, sind Referenzbudgets das richtige Werkzeug.

 ReferenzbudgetsEU-SILC
ZweckOrientierungshilfe für SchuldnerInnenErheben der Einkommensverteilung
misstnotwendige Ausgabenvorhandenes Haushaltseinkommen
Vorteilgibt einen notwendigen Minimalkonsum anliefert statistische Daten für politische Entscheidungen
Nachteilkeine Quantifizierung der Betroffenheitkeine Aussage über die leistbaren Ausgaben

Teilhabe durch Sozialleistungen? In vielen Fällen leider nicht

Gemeinsam haben Referenzbudgets und EU-SILC ein Niveau, das deutlich über jenem der Leistungen der finanziellen Existenzsicherung liegt (siehe Tabelle: Vergleich von Geldleistungen und Armutsgrenzen). Die durchschnittliche Höhe der Notstandshilfe beträgt derzeit 923,80 Euro. Die Sozialhilfe macht aktuell 949,46 Euro aus und die Ausgleichszulage (von 14 auf 12 Zahlungen im Jahr umgerechnet) 1.107,70 Euro. Daher ist eine nachhaltige Erhöhung dieser Leistungen aus Sicht von Teilhabe und Armutsbekämpfung unbedingt geboten!

Vergleich von Geldleistungen und Armutsgrenzen

Notstandshilfe durchschnittliche Höhe*Sozialhilfe/
Mindestsicherung
Ausgleichzulagen-richtsatz 12-mal/Jahr**Armutsgefährdungs-schwelleReferenzbudgets
923,80949,461.107,701.328,001.459,00
Quelle: HV, AMS, Statistik Austria, schuldnerberatung.at.
*Durchschnittliche Höhe der Notstandshilfe, 31 Tage/Monat, Werte für 12.2020.
** Der Ausgleichszulagenrichtsatz in der Pensionsversicherung wird 14-mal im Jahr ausbezahlt. Der angegebene Wert entspricht einer Aufteilung auf 12 Zahlungen.

Fazit: Referenzbudgets sind eine sinnvolle Ergänzung

Referenzbudgets können einen guten Einblick darauf geben, wie viel Geld nötig ist, um in zentralen Bereichen nicht von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. Obwohl sie keine Zahlen dazu liefern, wie viele Personen von Armut betroffen sind, zeigen sie deutlich, dass das derzeitige Niveau der existenzsichernden Leistungen zu niedrig ist und erhöht werden muss, um allen Mitgliedern unseren Gesellschaft Teilhabe zu ermöglichen. Sie leisten so einen sinnvollen und notwendigen Beitrag zur Debatte um Armutsbekämpfung.

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