Arbeitszeitverkürzung trotz Arbeitskräfteknappheit – eine reale Utopie

16. März 2023

Die letzte allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit fand vor über 40 Jahren statt, als in Österreich die 40-Stunden-Woche – wohlgemerkt in einer Zeit der Arbeitskräfteknappheit – eingeführt wurde. Diese „Knappheit“ wird auch aktuell ins Treffen geführt, um zu begründen, warum eine weitere Arbeitszeitverkürzung nicht möglich sei. Dieser Beitrag will zeigen, dass Arbeitszeitverkürzung gerade aufgrund der erhöhten Nachfrage nach Arbeitskräften notwendig ist. Und dass sie als Chance begriffen werden soll, die Arbeitswelt vorrangig an den Bedürfnissen der Menschen, dem Gemeinwohl und dem Erhalt der Umwelt zu orientieren. Dass das gelingen kann, zeigen Praxisbeispiele in einer Vielzahl von Branchen und Berufsfeldern.

„Kurze Vollzeit“ als Inklusionsinstrument 

Vertreter:innen der Wirtschaft sehen die Lösung für einen erhöhten Arbeitskräftebedarf darin, den bestehenden Beschäftigten noch mehr Arbeit (z. B. durch Überstunden oder Arbeitsverdichtung) aufzubürden. Eine nachhaltigere Antwort darauf wäre allerdings, durch die Einführung einer kurzen Vollzeit all jenen Menschen die Chance auf Partizipation am Arbeitsmarkt zu eröffnen, für welche die 40-Stunden-Vollzeitnorm eine Hürde darstellt. Das gilt nicht nur für Personen mit Betreuungs- und Pflegeverpflichtungen, sondern auch für Personen mit chronischen oder psychischen Erkrankungen, mit Behinderungen oder auch vom Arbeitsmarkt entmutigte Personen. Gerade in männerdominierten Branchen und in höheren Führungsebenen sind Stellen häufig ausschließlich als Vollzeitstellen konzipiert und verlangen oft noch Überstunden. Gleichzeitig werden durch eine kurze Vollzeit die Nachteile einer geringeren Arbeitsmarktintegration – wie geringes Einkommen und schlechtere Absicherung im Fall von Arbeitslosigkeit bzw. in der Pension usw. – ausgeglichen.

Attraktivierung von Arbeit durch „kurze Vollzeit

An Schulen, Kindergärten und im sozialpädagogischen Bereich fehlt es massiv an Personal. Im Bereich der sozialen Dienste haben Gewerkschaften mit der Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung bei gleichzeitiger Aufwertung der sozialen Arbeit auf Arbeitsverdichtung und zu niedrige Bezahlung reagiert. Kurz vor der Pandemie forderten die Gewerkschaften die Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Die erste Etappe wurde mit der Einführung der 37-Stunden-Woche ab 1.1.2022 genommen. Längerfristig ist die Arbeitszeitverkürzung von großer Bedeutung, um die Arbeit im Sozialbereich aufzuwerten und damit nicht nur Beschäftigte in körperlich und psychisch belastenden Berufen halten zu können, sondern auch für Neueinsteiger:innen oder Berufsrückkehrer:innen attraktiv zu sein.

Verkürzte Vollzeit-Arbeitszeitmodelle entsprechen auch den Arbeitszeitpräferenzen der Beschäftigten, wie der Arbeitsklima-Index der AK OÖ zeigt: Vollzeiterwerbstätige, die ihr Arbeitsausmaß ändern wollen, tendieren dazu, weniger arbeiten zu wollen, Teilzeitbeschäftigte – vor allem wenn sie ein geringes Erwerbsstundenausmaß haben – wünschen sich eher, mehr Stunden erwerbstätig zu sein. Für Arbeitgeber wird es bei der Personalsuche zukünftig darüber hinaus wichtiger werden, auch auf die lebensphasenbezogenen Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten einzugehen und entsprechende Arbeitszeitmodelle anzubieten.

Arbeitszeitverkürzung, um Gesundheit zu erhalten

Die körperlichen und psychosozialen Belastungen sind in vielen Berufen enorm. In systemrelevanten Branchen wie Pflege, Altenbetreuung und Reinigung glauben 60 bis über 70 Prozent der über 45-jährigen Beschäftigten nicht, dass sie bis zur Pension im Job durchhalten werden. Frauen sind dabei oft doppelt belastet. Sie arbeiten überproportional häufig in Branchen mit hohen Arbeits- und Gesundheitsbelastungen. Gleichzeitig stemmen sie den Großteil der unbezahlten Haus- und Sorgearbeit. In Österreich geht nur jede zweite Frau (ohne Beamtinnen) direkt aus der Erwerbstätigkeit in die Alterspension. Vor dem Hintergrund der Anhebung des Pensionsantrittsalters von Frauen ist das ein alarmierender Befund. Gute Arbeitsbedingungen sind eine zentrale Voraussetzung für einen längeren und gesunden Verbleib im Arbeitsleben. Altersgerechte Arbeitszeitmodelle sind dabei eine zentrale Stellschraube, von der alle Beschäftigten profitieren. Gerade in Zeiten des erhöhten Bedarfs an Arbeitskräften sollten Unternehmen und Politik ein stärkeres Augenmerk auf die Gruppe älterer Arbeitnehmer:innen haben.

Kurze Vollzeit für mehr Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen 

Arbeitszeitverkürzung ist aber auch ein Beitrag, um die eklatanten Ungleichheiten in der Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern und die damit verbundenen nachteiligen Folgen für Frauen auszugleichen. Zwei Drittel der unbezahlten Haus- und Betreuungsarbeit wird von Frauen geleistet. Und fast drei Viertel der Frauen mit Kindern unter 15 Jahren arbeiten in Teilzeit. Grund dafür ist oft, dass die öffentliche Infrastruktur fehlt (z. B. Angebote für pflegebedürftige Personen, Kindergartenplätze für Kinder mit Beeinträchtigung) oder nur zeitlich begrenzt vorhanden ist (z. B. Verfügbarkeit von vollzeitkompatiblen Kindergartenplätzen). Gleichzeitig gibt es viele frauendominierte Branchen, wie z. B. Handel oder Gastronomie, die nur Teilzeitstellen anbieten. Folglich haben Frauen die Nachteile dieser „individuellen“ und scheinbar „freiwilligen“ Arbeitszeitverkürzung zu tragen (z. B. geringe Karrierechancen, mangelnde finanzielle Unabhängigkeit). Darüber hinaus kann eine kurze Vollzeit eine Möglichkeit für die Umverteilung der unbezahlten Arbeit bieten, indem andere zeitliche Normen und Räume etabliert werden.

Neue Arbeits- und Zeitkulturen schaffen 

Angesichts der Klimakrise gilt es, die Arbeitswelt ressourcensparend und ökologisch nachhaltig auszurichten. Um hier das Ruder noch herumreißen zu können, müssen wir als Gesellschaft neu bestimmen, in welche Tätigkeiten wir unsere (begrenzten) Zeitressourcen investieren wollen. Auf welche Tätigkeiten, die etwa ökonomisch profitabel sind, aber wenig zum Gemeinwohl beitragen („bullshit jobs“) oder die für die Beschäftigten als auch für die Umwelt schädlich sind, können wir getrost verzichten? Dadurch werden wiederum Ressourcen für Pflege, Kinderbildung oder andere soziale Dienste frei, wo ein akuter Bedarf nach mehr Personal besteht. Wir sollten diese historische Chance nutzen, die Verwendung und Verteilung von Zeit stärker an den Bedürfnissen der Menschen bzw. dem Gemeinwohl zu orientieren und weniger an ökonomischer Rentabilität. Dazu gehört auch, das Primat der Zeitverwendung durch die Wirtschaft zu korrigieren, das insbesondere dazu beiträgt, dass zentrale Leistungen für den gesellschaftlichen Wohlstand, wie jene, die von Frauen unbezahlt „privat“ erbracht werden, nicht anerkannt werden.

Kurze Vollzeit als das „neue Normal“

Der gegenwärtige Arbeitsmarkt befindet sich in einer Umbruchsphase, die – in vielen Branchen und Berufen – mit einer Machtverschiebung zugunsten der Arbeitnehmer:innen verbunden ist. Viele Versuche und Pilotprojekte (jüngst eines aus Großbritannien) zeigen, dass eine Verkürzung der Vollzeit positive Effekte auf die Gesundheit, Work-Life-Balance und Arbeitszufriedenheit von Beschäftigten hat, von denen auch Unternehmen wesentlich profitieren: Krankenstände gehen zurück, die Fluktuation sinkt, die Produktivität bleibt annährend gleich bzw. erhöht sich leicht.

Die Vielfalt macht’s: Pilotprojekte zeigen, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Modelle den Anwendungsbereich erweitern. Auch sind Kollektivverträge ein wichtiges Instrument zur Umsetzung flexibler Modelle der verkürzten (Vollzeit)arbeit. Beispiele zeigen, dass eine „4-Tage-Woche“ auch gestaffelt für verschiedene Teams oder Bereiche eingeführt werden kann, um einen 5-Tage-Betrieb aufrechtzuerhalten, oder die Arbeitszeit wird über längere Durchrechnungszeiträume verkürzt, etwa in der Pflege oder im Industrieschichtbetrieb. Auch Lebensarbeitszeitmodelle, in denen ein geringeres Erwerbsausmaß während der Ausbildung oder Familiengründung ermöglicht wird, sind breit anwendbar. Das ÖGB-AK-Modell der Familienarbeitszeit, das mehr Geld für Väter und Mütter bei gleicher Aufteilung einer reduzierten Erwerbsarbeit bringt, könnte als ersten Schritt in Richtung kurzer Vollzeit rasch umgesetzt werden.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/. Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung