Gesund dank Dr. Hartz? „Strukturreformen“ und „Beschäftigungswunder“ in Deutschland

02. September 2014

Vor zwölf Jahren legte die von Peter Hartz geleitete Kommission für „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ ihren Bericht vor. Das damals proklamierte Ziel, die Arbeitslosigkeit in Deutschland binnen drei Jahren um zwei Millionen zu reduzieren, ist bis heute nicht erreicht. Aber in einem durch Ungleichgewichte im Euroraum geschwächten Umfeld steht Deutschland unter den bevölkerungsreicheren Mitgliedsländern als Klassenbester da. Deshalb sollen die Nachbarn nun „Strukturreformen“ nach deutschem Vorbild einführen. Aber inwieweit hängt Deutschlands derzeit günstige Beschäftigungssituation überhaupt mit den Reformen zusammen?

Wanderpokal „Kranker Mann Europas“

Noch im Jahre 2003 war Deutschland für einen einflussreichen deutschen Wirtschaftsprofessor der „kranke Mann Europas“. Mit dem Minderwertigkeitskomplex der „Reformunfähigkeit“ schaute man von hier auf europäische Nachbarländer, welche die Wende von der „aktiven“ zur „aktivierenden“ Arbeitsmarktpolitik schon vollzogen hatten. Seit 2009 dagegen spricht die Welt vom „deutschen Beschäftigungswunder“. Den Nachbarn, die da nicht mithalten können, werden „Strukturreformen für Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum“ aufgedrängt. François Hollande tritt mit Ex-Kanzler Gerhard Schröder im französischen Fernsehen auf.

Radikale Reform

Dazwischen lag die wohl radikalste Reform der Arbeitsmarktpolitik, die ein EU-Land durchgeführt hat. Kein anderes Land hat gleichzeitig sowohl die soziale Sicherung für Arbeitslose und erwerbsfähige Bedürftige als auch seinen Arbeitsmarktservice komplett umgekrempelt. Das hat zwar aus administrativ-technischen Gründen die Arbeitslosenzahl 2005 noch hochgetrieben, aber schon 2006 gab es ansehnliches Wirtschaftswachstum, leichte Zunahme der Beschäftigung und Rückgang der Arbeitslosigkeit. Also eine Reform mit sofortiger und durchschlagender Wirkung: Kaum hat die Population der Störche zugenommen, steigen auch schon die Geburtenraten!

Rückenwind durch Basistrends

In der Tat war die Reform zeitlich günstig ans Ende eines Abschwungs platziert, was die Reformer natürlich nicht genau vorhersehen konnten. Demografischen Rückenwind brachte die Abnahme der Bevölkerung im Erwerbsalter (15-64 Jahre) bereits seit 1999. Und schon ein paar Jahre davor begann die Zahl der Erwerbstätigen zu steigen (mit vorübergehendem Rückgang von 2001 bis 2005), während die Zahl der durchschnittlich pro Erwerbstätigen und Woche gearbeiteten Stunden durch Zunahme der Teilzeitarbeit abnahm. Nicht erst seit der Reform wird das gesellschaftliche Arbeitsvolumen auf immer mehr Personen aufgeteilt. Und wenn dieses Arbeitsvolumen nach langjähriger Tendenz zur Abnahme inzwischen wieder das Niveau von 1993 erreicht hat, dann ist das natürlich gut für die Beschäftigung. Aber bei im Durchschnitt des derzeitigen Zyklus eher mäßigen Raten des Wirtschaftswachstums bedeutet das auch, dass sich die Entwicklung der Produktivität verlangsamt hat, und das nicht nur in den Krisenjahren 2008/2009. Die nächste Rationalisierungs‑ und Restrukturierungskrise ist also absehbar.

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Quelle: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, <a href="http://doku.iab.de/arbeitsmarktdaten/Aktuelle_Daten.pdf" target="_blank">Daten zur kurzfristigen Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt</a> © A&W Blog
Quelle: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Daten zur kurzfristigen Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt

Beschäftigungsgewinne durch Lohnverzicht?

Und die Reformen? Zweifellos haben nicht nur die konkreten Maßnahmen (z.B. Abschaffung der am früheren Verdienst orientierten, zeitlich unbefristeten Arbeitslosenhilfe), sondern auch die öffentlichen Diskurse (Gerhard Schröder: „Es gibt kein Recht auf Faulheit“) zur Einschüchterung der Beschäftigten und damit zur Lohnzurückhaltung beigetragen. Das Zurückbleiben der deutschen Lohnstückkosten trägt zu den Ungleichgewichten in der Eurozone bei.

Aber ist es auch ursächlich für die deutschen Exporterfolge insgesamt? Die Beschäftigten der exportorientierten Betriebe haben die relativ höchsten Löhne. Ob und wie sich die im internationalen Vergleich besonders niedrigen Lohnkosten im Dienstleistungsbereich über günstige Vorleistungen in exporttreibende Wettbewerbsvorteile „durchrechnen“, ist umstritten. Modellrechnungen demonstrieren die Möglichkeit, dass eine expansivere Lohnentwicklung über die Stärkung der Binnennachfrage unter dem Strich mehr Beschäftigung induziert hätte als die exportfixierte Strategie. Ob deutsche Unternehmen Lohnkostenvorteile auf dem Weltmarkt im Preis weitergeben oder zur Ertragssteigerung nutzen, wurde m.W. bisher nicht untersucht. Oder ist es vielleicht einfach so, dass die Produktpalette der deutschen Industrie, die noch auf dem Höhepunkt der „dot.com-Euphorie“ für viele Beobachter reichlich alt aussah, jetzt wunderbar zu den Investitions‑ und Konsumwünschen neuer Eliten in aufstrebenden Industrieländern passt? Ist das deutsche „Beschäftigungswunder“ vielleicht lediglich ein historischer Glücksfall? (Natürlich gepaart mit der Fähigkeit deutscher Konzerne, Mittelständler und Facharbeiter, das Glück auch ordentlich zu schmieden, wenn es denn vorbeikommt …)

Länger Arbeiten = weniger Zugänge in Arbeitslosigkeit

Aber wo sind dann die deutschen Arbeitslosen geblieben? Zunächst einmal: Fast 2,9 Millionen (Quote 6,6% im Juli 2014) nach nationaler administrativer Zählung sind noch da. Anfang der 1990er Jahre, als dieses Niveau von unten her erreicht wurde, nannte man das „Massenarbeitslosigkeit“. Rund 500.000 von den immer noch fast drei Millionen Arbeitslosen sind ziemlich permanent arbeitslos, nämlich zwei Jahre und länger. Auf der anderen Seite gibt es seit 2006 (mit Ausnahme 2009) erfreulich wenig „frische“ Arbeitslose.

Während die Reformdiskussionen liefen, haben die Betriebe 2002-2004 noch einmal kräftig entlassen, und zwar überproportional Ältere. Ab 2006 jedoch wirkten Arbeitsmarkt‑ und Rentenreformen dahingehend zusammen, dass ein solcher „Vorruhestand“ auf Kosten von Arbeitslosen‑ und Rentenversicherung nicht mehr möglich war. Ältere konnte man nicht mehr einvernehmlich „freisetzen“, und Jüngere wurden knapper, das wussten mittlerweile auch die Betriebe. Deshalb die „Hortung“ von Arbeitskräften weitgehend auch in der Krise 2008/2009, und deshalb gingen die Beschäftigungszuwächse rechnerisch fast vollständig auf das Konto der Älteren. Genauer: Beschäftigte sind älter geworden und im Unterschied zu den nur wenige Jahre vorher Geborenen auch bis in ein höheres Alter beschäftigt geblieben. Das eigentliche deutsche Beschäftigungswunder besteht darin, dass sich innerhalb von nur vier Geburtskohorten der Verbleib in Erwerbstätigkeit im Mittel um ein Jahr verlängert hat. Für dieses Ergebnis dürften die Rentenreformen wichtiger gewesen sein als die Arbeitsmarktreformen.

Bessere Arbeitsvermittlung durch „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“?

Das vorrangige Ziel der arbeitsmarktpolitischen Reformen bestand ja darin, die Arbeitslosigkeit durch wirksamere Arbeitsvermittlung und „Aktivierung“ der Arbeitslosen zu senken. Und tatsächlich haben die Übergänge aus Arbeitslosigkeit in Erwerbstätigkeit schon ab 2003 zugenommen. Nach Aussage der Betriebe in regelmäßigen Befragungen dagegen hat sich der Anteil von Arbeitslosen an ihren Einstellungen nur 2002 etwas erhöht und ist seitdem wieder kontinuierlich zurückgegangen.

Dieser vorübergehende „Aktivierungseffekt“ beschränkt sich auf kurzzeitig Arbeitslose. Die Übergangsraten von Langzeitarbeitslosen haben immer weiter abgenommen. Das war vor der Reform so und hat sich durch die Reform nicht geändert. Ab 2010 sind sogar die Übergänge von Arbeitslosen in Beschäftigung insgesamt wieder stark zurückgegangen. Der deutsche Arbeitsmarkt sieht nur noch bei seinen Bestandsgrößen gut aus, nicht bei seinen Bewegungsdaten. Er hält mit vollen Lungen den Atem an – wie lange noch?

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Quelle: Bundesagentur für Arbeit, eigene Zusammenstellung © A&W Blog
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, eigene Zusammenstellung

Abnehmende Allokationsleistung des Arbeitsmarktes

Insgesamt ist der Arbeitsmarkt in Deutschland durch die Reformen nicht dynamischer geworden – im Gegenteil. Die Gesamtfluktuation der Arbeitskräfte ist nach den Reformen deutlich niedriger als vorher. Normalerweise steigt die Fluktuation bei zunehmender Nachfrage nach Arbeitskräften stark an, weil Beschäftigte abgeworben werden und dann ihrerseits ersetzt werden müssen. Die Reformen haben dieses Muster ab 2005 fahrstuhlartig eine Etage nach unten versetzt.

Die Gründe dürften zum einen in der Einschränkung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit liegen, weshalb das Risiko eines Arbeitgeberwechsels (der vorübergehend aus der Geltung des gesetzlichen Kündigungsschutzes hinausführt) höher eingeschätzt wird als früher. Zum anderen sind die Einstiegslöhne schon seit 2000 deutlich gesunken. Das passt zur allgemeinen Lohnstagnation und insbesondere zur wachsenden Lohnspreizung, die sich ja hauptsächlich über die Neueinstellungen realisiert. Es passt auch dazu, dass an diesen Neueinstellungen Arbeitslose unter dem verschärftem Druck, jede Arbeit anzunehmen, stärker partizipierten als vorher. Es will aber überhaupt nicht passen zu den wachsenden Klagen über Fachkräfteengpässe.

Die Reformen haben die Reaktion der Löhne auf die – demografisch und konjunkturell bedingt – für Arbeitnehmer günstiger werdenden Relationen von Angebot und Nachfrage um mehrere Jahre verzögert. Es scheint, dass die Allokationsleistung des deutschen Arbeitsmarktes dadurch insgesamt nicht besser, sondern eher schlechter geworden ist.

Dieser Blog-Beitrag basiert auf der deutlich umfassenderen Studie Rosige Zeiten am Arbeitsmarkt?, die bei der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht wurde.