Eine gute Arbeitslosenversicherung als Garant für eine produktive und gerechte Zukunft

31. August 2018

Die kontinentaleuropäischen, nicht die angelsächsischen marktliberalen Gesellschaften haben sich als Vorbilder für soziale Stabilität, produktive Volkswirtschaften und – bei allen derzeitigen populistischen Tendenzen – als funktionierende Demokratien erwiesen. Hier genießen die Menschen überwiegend gute und faire Arbeits- und Lebensbedingungen. In Österreich sollte dieses Erfolgsmodell nicht leichtsinnig mit radikalen Reformen nach deutschem Vorbild wie der angedachten Abschaffung der Notstandshilfe aufs Spiel gesetzt werden.

Die Arbeitslosenversicherung als Bollwerk gegen den kapitalistischen Markt

Erst das Arbeitsrecht und die Sozialversicherungen machen unsere kapitalistisch organisierten Wirtschaftssysteme zu „sozialen Marktwirtschaften“. Diese Systeme sind Ausdruck eines historisch gewachsenen und politisch gewollten Gesellschaftsvertrags. Errungen in den Kämpfen der Arbeiterbewegung gilt vor allem die Arbeitslosenversicherung in den kontinentaleuropäischen Ländern als Bollwerk gegen die Dynamiken des kapitalistischen Marktes. Daher wurde die Arbeitslosenversicherung in Deutschland auch erst nach der Veränderung der politischen Machtverhältnisse als letzte der Sozialversicherungen mit erheblicher Verspätung in der Weimarer Republik eingeführt. Sie mindert den Warencharakter der Arbeit, indem sie die Menschen davor bewahrt, zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes unfaire Arbeits- und Lohnbedingungen akzeptieren zu müssen. Genau dieser Mechanismus wird heute infrage gestellt: In der aktuellen Debatte wird der Anspruch auf ein gut bezahltes und gut reguliertes Arbeitsverhältnis als illegitim betrachtet. Das ökonomische Konzept eines „Reservationslohnes“ zur Messung individueller Lohnerwartungen wird im wirtschaftsliberalen Diskurs zum Indikator illegitimer Arbeitsverweigerung stilisiert. Dabei ist der Schutz guter Standards Teil des emanzipatorischen Projektes der ArbeiterInnenbewegung seit dem 19. Jahrhundert. Mit der Demokratisierung der Industrieländer wurde die Absicherung sozialer Risiken zum Teil der Gemeinwohlidee, so dass bis heute der Schutz des sozialen Status auch bei Arbeitslosigkeit zugebilligt wird. Dies ist in zweierlei Hinsicht funktional.

Die Arbeitslosenversicherung garantiert vorhersehbare Leistungen

Zum einen entspricht der Erhalt des sozialen Status bei Arbeitslosigkeit dem mehrheitlichen Gerechtigkeitsempfinden in den „alten“ europäischen Wohlfahrtsstaaten: Es gilt als gerecht, bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit weitgehend vor sozialem Abstieg geschützt zu sein. In Deutschland ist diese Auffassung nach wie vor mehrheitsfähig. Mit der Definition dieses Maßstabes generiert die Arbeitslosenversicherung für die Erwerbstätigen eigentumsähnliche Rechte: Sie gewährt Ansprüche, die maßgeblich von den Vorleistungen – der Höhe und Dauer der Beitragszahlungen – abhängen. Hierin liegt die Attraktivität der Systeme im Unterschied zu steuerfinanzierten und pauschalen Leistungen: Der Bezug der Leistungen ist garantiert und seine Höhe und Dauer vorhersehbar, ohne dass unzumutbare und unkalkulierbare Verhaltensanforderungen gestellt werden können oder Leistungen durch einfache politische Entscheidungen empfindlich gekürzt werden können. Gesetzliche Veränderungen bedürfen eines gesellschaftlichen Konsenses und – in sozialpartnerschaftlich geprägten Volkswirtschaften wie der deutschen oder der österreichischen – auch des Einverständnisses der Tarifpartner. Die Definition mittlerer Standards und die neokorporatistische Abstimmung stärkt die Interessenvertretung der Erwerbstätigen und unterstützt Forderungen nach guten Löhnen und Arbeitsbedingungen. Auf diese Weise stärken sozialstaatliche Institutionen die gesellschaftliche Machtposition der ArbeitnehmerInnen in einem marktlich organisierten (grundsätzlich asymmetrischen) Wirtschaftssystem.

Die Arbeitslosenversicherung stärkt die Binnennachfrage

Zum anderen wirkt die Arbeitslosenversicherung in einer Volkswirtschaft auch unmittelbar ökonomisch: Sie beeinflusst die Lohnbildung, weil sie einen Korridor eines mittleren Lebensstandards definiert, der in kollektiven Lohnverhandlungen mindestens erreicht werden muss. Indem sie Lohnniveau und Sicherungsleistungen aneinanderkoppelt, stabilisiert sie gleichzeitig die Binnennachfrage in Zeiten von Produktionseinbrüchen und steigender Arbeitslosigkeit. Ganz klar hat sich dieses automatische Ausgleichssystem in der Wirtschafts- und Finanzkrise in Deutschland und Österreich bewährt. Jegliche Veränderung der Arbeitslosenversicherung ist daher gleichermaßen ökonomisch und politisch relevant. Damit können die Leistungen der Arbeitslosenversicherung wie in folgender Abbildung zusammengefasst werden:

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

„Arbeitsmarktreformen“ – ein europäischer Trend des Sozialabbaus

Basis und Bestandsgarantie für diese Art von Gesellschaftsvertrag war der in der Nachkriegszeit gewachsene heute hochgradig institutionalisierte Sozialstaat. Das Erstarken populistischer Bewegungen ist nicht zuletzt ein Anzeichen dafür, dass das Sicherheitsversprechen, das sich hieraus ableitet, brüchig geworden ist. Marktliberal inspirierte sozialpolitische Reformen, wie die Hartz-Reformen in Deutschland, das aktuelle Reformvorhaben Macrons in Frankreich sowie die aktuellen Pläne der österreichischen Regierung zielen auf den Abbau oder die Schwächung kollektiver und individueller sozialer Rechte und setzen dabei vor allem bei der Arbeitslosenversicherung an. Indem sie darauf zielen, die Leistungsgewährung – anders als nach dem Sozialversicherungsprinzip – nicht mehr am Status, sondern am individuellen Verhalten festzumachen, bremsen sie nicht die gesellschaftliche und politische Erosion, sondern verstärken sie vielmehr zusätzlich. In Deutschland haben die Reformen am Arbeitsmarkt – vor allem durch die Veränderung der Arbeitslosenversicherung und die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die das deutsche Pendant zur Notstandshilfe in Österreich war – zu sozialer Verunsicherung geführt. Möglicherweise sind auch die Spaltung des Parteiensystems und der Zulauf zu rechtspopulistischen Parteien hierdurch erklärbar. Zehn Jahre Erfahrungen mit den Hartz-Reformen zeigen: Die Verminderung sozialer Problemlagen bedarf nicht des Abbaus sozialer Rechte, sondern der Eindämmung von Niedriglohnbeschäftigung, der Bekämpfung verfestigter und „perforierter“ Langzeitarbeitslosigkeit und der Förderung beruflicher Qualifikation.

Politische Naivität oder gewollte Verschiebung ökonomischer Machtverhältnisse?

Umso erstaunlicher ist, dass sich nun auch die österreichische Regierung scheinbar am deutschen Reformweg als Sinnbild der Arbeitsmarktliberalisierung orientiert und Reformvorschläge anhand fragwürdiger Verhaltensannahmen formuliert: Die Einschränkung sozialer Rechte soll die Dauer der Arbeitslosigkeit reduzieren und eine schnelle Wiederbeschäftigung wahrscheinlicher machen. Erklärtes Ziel ist – nach deutschem Vorbild – die Abschaffung der Notstandshilfe, obschon mittlerweile klar geworden sein müsste, dass diese keineswegs eine positive Arbeitsentwicklung, wohl aber die Prekarisierung weiter Teile des Arbeitsmarktes verursacht hat. Auch die jüngst von der Lobbyorganisation Agenda Austria vorgebrachten Vorschläge stimmen in den angebotsseitigen Kanon ein: Gefordert wird hier die Abschaffung der Notstandshilfe und die degressive Ausgestaltung der Zahlbeträge. Wie in Deutschland ist unklar, ob hier lediglich in naiver, angebotstheoretischer Manier die Verbesserung der Arbeitsmarktprozesse durch die Einwirkung auf das individuelle Verhalten erhofft wird oder ob hinter den Vorschlägen machtpolitische Kalküle zur Schwächung der kollektiven Einrichtung der Arbeitslosenversicherung vermutet werden müssen. Wie auch immer, die angebotsseitigen Reform- und Erklärungsansätze überzeugen vor allem deswegen als Alltagsargument in der politischen Öffentlichkeit, weil sie einfach gestrickt sind: Wenn jede/r Arbeitslose zu stärkeren Bemühungen gezwungen wäre, würden sich die Phasen der Arbeitslosigkeit verkürzen und die Langzeitarbeitslosigkeit in der Folge gleichsam von allein sinken.

Arbeitsmarktreformen, die den Erhalt des Status in Phasen der Arbeitslosigkeit infrage stellen, verschieben jedoch das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital zuungunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie schränken nicht nur die individuellen Handlungsoptionen arbeitsloser Menschen ein, sondern verändern die Logik der sozialen Absicherung: Die Gewährung von Rechten erfolgt nicht mehr auf Basis zuvor erbrachter Leistungen, sondern wird vom konkreten und situativen Verhalten der Leistungsbeziehenden abhängig gemacht, das wiederum von der Arbeitsverwaltung kontrolliert werden muss. Die Ausweitung des staatlichen Kontroll- und Steuerungsanspruchs individuellen Verhaltens steht in krassem Widerspruch zur demokratischen Grundidee, die individuelle Autonomie der BürgerInnen schützen und fördern zu wollen.

Der hohe Preis angebotsseitiger Arbeitsmarktreformen

Da eine erzwungene Wiederbeschäftigung selten nachhaltig ist und den Betroffenen die Akzeptanz schlechterer Arbeitsbedingungen abverlangt, führen degressiv ausgestaltete Leistungshöhen, die Verkürzung der Dauer statussichernder Leistungen (eben durch die Abschaffung der unbefristet beziehbaren Notstandshilfe) oder sehr weit definierte Kriterien dessen, was als zumutbare Arbeit gilt, zwangläufig zu einem Anstieg unterwertiger Beschäftigung. Auf individueller Ebene droht im Falle von Arbeitslosigkeit damit eine Abwärtsspirale, in der einmal erarbeitete Qualifikationen oder Einkommensniveaus aufgegeben werden müssen. Auf der Ebene des Beschäftigungssystems wird eine Verkürzung der durchschnittlichen Dauer von Arbeitslosigkeit mit dem Verlust von Humankapital und der Einschränkung der Allokationsfunktion des Arbeitsmarktes gleichsam erkauft. Und nicht nur das: Auch das Kollektivvertragssystem leidet. Die Reduzierung sozialer Sicherheit lässt den Druck in den Lohnverhandlungen steigen und erzwingt eine höhere Konzessionsbereitschaft. Im Ergebnis nehmen soziale Ängste und Verunsicherung zu, das Vertrauen, Statuserhalt oder sozialen Aufstieg durch eigene Leistung schaffen zu können, leidet und die Bereitschaft zur beruflichen Mobilität sinkt.

Diese Erkenntnisse haben sozialwissenschaftliche Analysen im Nachgang zu den deutschen Hartz-Reformen vielfach belegt. Ob aus Vorsatz oder als Ausdruck eines „polit-ökonomischen Analphabetismus“ – in der aktuellen Reformdebatte in Österreich und Frankreich werden sie systematisch ausgeblendet. Sollen unliebsame gesellschaftliche Entwicklungen, die in Deutschland auch als Folge der sozialstaatlichen Neuausrichtung und hieraus resultierender sozialer Verunsicherung gelesen werden können, vermieden werden, täte die österreichische Regierung gut daran, die vorliegenden Erkenntnisse ernst zu nehmen und die Einwände der VertreterInnen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im stärkeren Maße zu berücksichtigen.