20 Jahre „Battle in Seattle“ – Erfahrungen aus dem Widerstand gegen die Welthandelsorganisation

29. November 2019

Vor 20 Jahren kam der damals stärkste Motor der neoliberalen Globalisierung, die Welthandelsorganisation, unerwartet zum Stillstand. Am 30. November 1999 musste der Auftakt der WTO-Ministerkonferenz in Seattle verschoben werden, weil zentrale Straßen durch Demonstrant*innen blockiert waren. Die Konferenz endete ergebnislos. Seitdem sind die WTO-Ministerkonferenzen immer wieder zu zentralen Protestorten geworden. Heute muss sich die neoliberale Agenda vor allem für ihre Rolle in der Klimakrise verantworten. Der „Battle in Seattle“ zeigt, wie Umdenken zu neoliberalen Themen funktionieren kann.

Die Verantwortlichen wurden überrascht

Die Kritik an und der Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung war im globalen Süden schon länger vorhanden. Ein prominentes Beispiel ist etwa der Aufstand der Zapatistas 1994 in Mexiko rund um das Inkrafttreten der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA). Dennoch kam die Wucht des Widerstands gegen die WTO in Seattle überraschend für die Verantwortlichen. Mit Komplexität und Fokus auf technische Details bei Handelsbarrieren war lange versucht worden, die undemokratische Machtkonzentration in der WTO vor der Zivilgesellschaft zu verbergen. Schätzungsweise 40.000 bis 75.000 Menschen gingen im November 1999 in Seattle auf die Straße, um gegen die Vertiefung neoliberaler Globalisierung, die Ausweitung globaler Ungerechtigkeit und Konzernmacht zu demonstrieren.

Die Macht der Aufmerksamkeit im globalen Norden

Dass der Widerstand auch in den Industrieländern derart heftig sein könnte, war in den Wochen vor den Protesten kaum vorstellbar gewesen. Denn vor allem die industrialisierten Länder im globalen Norden hatten bis dahin systematisch vom neoliberalen Globalisierungsprojekt profitiert. Aber eben nicht alle. Zu diesem Zeitpunkt war doch klar geworden, dass die Ausweitung des Welthandels ihre Wohlstandsversprechen nicht hielt, sondern auch negative Effekte hatte.

Der offensichtliche Demokratie- und Mitbestimmungsmangel innerhalb der WTO konnte ebenso nicht mehr versteckt werden und wurden so neben der inhaltlichen Kritik zu einem weiteren zentralen Kritikpunkt der Protestierenden. Die Menschen wollten sich ihr Mitspracherecht über die weitere Entwicklung der WTO nicht nehmen lassen.

„Teamsters and Turtles“: Gewerkschaften und Umweltaktivist*innen gegen die WTO

Der Protest war von neuen Bündnissen getragen und wies inhaltlich eine große Breite auf. Bekannt wurden beispielsweise die grünblauen Schildkrötenkostüme einiger Demonstrant*innen. Das Bündnis aus Gewerkschafter*innen und Umweltaktivist*innen, das sich „Teamsters and Turtles“ nannte, wies auf die Folgen des Welthandels für Umwelt und Arbeitnehmer*innen hin. Die Kostüme sollten auf Fälle von toten Schildkröten in Fangnetzen für Garnelen aufmerksam machen, obwohl internationale Standards dies vermeiden sollten. Die wurden von einigen Ländern nicht eingehalten, aber die USA durften diese beim Import nicht unterschiedlich behandeln – wegen der Regeln der WTO. Ähnliche Probleme in der Differenzierung nach Herkunftsländern gab es beim Import von Stahl(produkten) aus Niedriglohnländern. Damit machten die Proteste klar, dass mehr Handel nicht bedingungslos und unabhängig von Arbeitsrechten und Umweltschutz zu mehr Wohlstand führt.

Viele Verbündete für die „Teamsters und Turtles“

Gleichzeitig machten nicht nur stark politisierte Gruppen, sondern auch Kirchen oder Schulen ihre Meinung zum Demokratiedefizit der WTO publik. Während die Masse der Protestierenden aus den USA selbst oder Kanada kam, waren viele Redner*innen Betroffene aus dem globalen Süden und Mitglieder transnationaler Netzwerke. So konnte eine Brücke zwischen globalem Norden und Süden innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung gespannt werden. Zusätzlich gründete der Organisator vor Ort, das stark zapatistisch geprägte Netzwerk „Peoples Global Action“, ein eigenes Medienportal. Damit konnte nicht nur der Machtkonzentration in nationalen Medien entgangen werden, sondern man war auch in der Lage, eigene differenzierte Analysen der Ereignisse zu veröffentlichen.

Gewaltfreiheit als grundlegende Haltung

Die Taktik der Organisator*innen war klar: keine Teilnahme an den Verhandlungen, keine Verhandlungsergebnisse, keine Ausweitung der neoliberalen Handelsagenda. Um die Teilnahme von Delegierten zu verhindern, wurden Menschenketten an Straßenkreuzungen und vor Hotels der Delegierten gebildet. Die Taktik ging auf. Der friedliche Einsatz des eigenen Körpers gegen den regulären Verlauf der Verhandlungen und die Polizei funktionierte. Die bunten Kostüme kreierten einladende Bilder für Zeitungen und Menschen, die sich den Blockaden spontan anschlossen.

Nichtsdestotrotz stieg der Druck auf den Staat mit dem Stillstand der Konferenz, worauf die Behörden polizeiliche Repression erhöhten: Der Ausnahmezustand wurde verhängt, die Nationalgarde gerufen, und es fanden Plünderungen von Geschäften im Innenstadtbereich durch einen Schwarzen Block statt. Mehr als 600 Personen wurden verhaftet, die jedoch unter anderem dank der Streikdrohungen, den Hafen zu schließen, freigelassen wurden.

Auswirkungen auf den Stillstand der WTO

Der Widerstand gegen den Start einer weiteren Liberalisierungsrunde der WTO kam nicht nur aus der Zivilgesellschaft, sondern auch von den Vertreter*innen der Mitgliedsländer der WTO aus dem globalen Süden. In Seattle etablierte sich dieser Widerstand erstmals. Und auch in Europa entstanden neue Akteure und Netzwerke. So gab es im September 2000 einen breiten Protest gegen die Weltbank und den IWF, bei dem mehr als 15.000 Menschen in Prag auf die Straße gingen. 2001 entstanden angesichts der weitreichenden Liberalisierungsvorhaben im Bereich des Dienstleistungshandels (General Agreement on Trade in Services, GATS) zahlreiche zivilgesellschaftliche Kampagnen. Diese letzte große Liberalisierungsrunde auf WTO-Ebene, die 2001 in Doha angestoßen wurde, ist noch immer nicht abgeschlossen. Der Stillstand der WTO-Doha-Runde ab circa 2006 hat dazu geführt, dass die Treiber der neoliberalen Globalisierung – die USA und die EU – vor allem bilaterale und bi-regionale Handelsabkommen verhandeln. CETA und TTIP sind ein Ausdruck davon.

Der Wechsel der neoliberalen Agenda von der multilateralen Ebene der WTO zu bilateralen Verhandlungen hat auch große Herausforderungen für die globalisierungskritische Bewegung geschaffen: Proteste mussten sich auf nationale Regierungen umorientieren, vielfach waren einzelne Organisationen wieder mehr gezwungen, auf lokale Kämpfe zu fokussieren. Mit den Stopp-GATS-Kampagnen, später TTIP-Stoppen, wurde die globale Kritik auch nach Österreich gebracht. Mit der Nachfolgerin der TTIP-Stoppen-Kampagne, der Plattform Anders Handeln, gibt es heute in Österreich einen Akteur, der langfristig für konkrete Alternativen zu einer neoliberalen Handelspolitik arbeitet.

Erfahrung für die Klimagerechtigkeitsbewegung

Besonders die liberalisierungskritischen Stimmen, die ihre Erfahrung mit den Mechanismen der Liberalisierung durch Handel im Kapitalismus gemacht hatten, trugen ihren Teil zur Entstehung der Klimagerechtigkeitsbewegung bei. So entstand 2002 in Bali auf einem Vorbereitungstreffen zwischen globalisierungskritischen und Umweltschutzorganisationen für den Earth Summit das erste Bündnis der Klimagerechtigkeit (mit den Bali Principles of Climate Justice). 2007 bei der Klimakonferenz in Bali gab es bereits direkte offene Konflikte zwischen systemkritischen und lobbyierenden, grünes Wachstum befürwortenden Bündnissen. Diese unterschiedlich kritischen Sichtweisen auf die Klimakrise existieren bis heute fort, und es wird entscheidend sein, ob aus den Erfahrungen des Widerstands gegen neoliberale Großprojekte wie der WTO gelernt wird oder nicht.

Fazit

Mit dem „Battle in Seattle“ begann der Stillstand der WTO. Obwohl die Treiber der neoliberalen Globalisierung über bilaterale Handelsabkommen versuchen, dieses System auszuweiten, haben die globalisierungskritische und die Klimagerechtigkeitsbewegung ihre inhaltliche Kritik und ihre taktische Raffinesse weiterentwickelt. Dazu zählen die nunmehr an vielen Stellen klare Systemkritik im globalen Norden, die Gewaltfreiheit, die Medienarbeit und das Aufbauen breiter Bündnisse zwischen Umweltaktivist*innen und Gewerkschaften. Jetzt, wo es um systematisches Verstehen der Ursachen der Klimakrise und die Durchsetzung von Maßnahmen für effektiven Klimaschutz geht, können alle Akteure von diesen Erfahrungen profitieren.

 

Theresa Kofler, Koordinatorin der Plattform Anders Handeln