Deutschland: neue Kritik an Schuldenbremse

20. Mai 2019

Die Debatte über die Schuldenbremse wird endlich auch in Deutschland geführt. Zehn Jahre nach ihrer Verankerung im Grundgesetz und dem Siegeszug durch Europa wird die Schuldenbremse von einer zunehmenden Anzahl von ÖkonomInnen infrage gestellt. Dabei war die Schuldenbremse nie wissenschaftlich zu begründen, sondern immer ein politisches Projekt.

Mangelnde Infrastruktur

Doubts grow over Germany’s balanced budget rule“ – mit dieser Schlagzeile in der „Financial Times“ vom 28. April 2019 erreichte die Debatte um die Problematik der Schuldenbremse auch die internationalen Medien. Das Interessante daran: Neben einer Gruppe von ÖkonomInnen, die die Schuldenbremse bereits vor zehn Jahren skeptisch beurteilte, treten nun auch ehemalige BefürworterInnen gegen die Schuldenbremse auf, allen voran Michael Hüther, der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. Argumentiert wird, dass die Schuldenbremse in Zeiten steigender Staatsverschuldung – wir erinnern uns: 2009 mitten in der Finanz- und Wirtschaftskrise – richtig war, nun aber die Spielräume unnötig einengen würde. Das ist insofern bemerkenswert, als die Schuldenbremse auf Ebene der Bundesländer überhaupt erst ab 2020 greifen wird. Woher kommt also der Sinneswandel?

Ein wesentliches Argument für einen höheren staatlichen Spielraum ist die zunehmend schlechter werdende Infrastruktur in Deutschland. Dabei ist die Messung von Investitionen unter ÖkonomInnen strittig, schließlich wird gesagt, man könne nicht trennscharf zwischen Investitions- und Konsumausgaben unterscheiden. Genau diese Unterscheidung wäre ökonomisch sinnvoll und war bis zur Einführung der Schuldenbremse auch im deutschen Grundgesetz verankert.

Investitionen in Österreich wesentlich höher

Deutschland weist laut Eurostat für das Jahr 2018 staatliche Bruttoanlageinvestitionen (d. h. vor den Abschreibungen) von 2,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus, Österreich 3,0 Prozent. Das ist nicht erst 2018 so: In den vergangenen zehn Jahren (2009–2018) investierte der Staat in Deutschland durchschnittlich 2,2 Prozent des BIP pro Jahr, in Österreich waren es 3,1 Prozent. Das sind gewaltige Unterschiede, die allerdings schon vor Einführung der Schuldenbremse bestanden.

Die Zufriedenheit in Wien und Graz mit der Infrastruktur ist auch höher als in deutschen Städten. Die europäische Statistikbehörde Eurostat fragt diese Zufriedenheit ab (zuletzt 2015) und bezieht dabei 28 deutsche Städte sowie Wien und Graz in das Sample ein. In den deutschen Städten waren 80,5 Prozent der Befragten sehr zufrieden oder zufrieden mit öffentlichen Räumen wie Märkten, Plätzen oder Fußgängerzonen. In Österreich liegt die Zufriedenheit bei 88,5 Prozent. Mit dem Zustand der Straßen und Gebäude in der Umgebung waren in Deutschland 61,8 Prozent zufrieden; in Österreich 87 Prozent. Natürlich gibt es innerhalb der deutschen Städte erhebliche Schwankungen, dennoch könnten diese Aussagen durchaus ein Hinweis auf fehlende öffentliche Investitionen sein – neben den harten Fakten wie der für Lkw gesperrten Rheinbrücke bei Leverkusen.

Warum öffentliche Schulden nicht per se schlecht sind

In der Debatte um Schulden dominieren moralische gegenüber ökonomischen Argumenten. Schulden sind schlecht. Punkt.

Diese Ansicht ist ökonomisch nicht haltbar. Schulden müssen im Konkreten bewertet werden, nicht abstrakt: Wenn die Kosten der Schulden – also die Zinsen – niedriger sind als der Nutzen der Schulden – Wachstum, weniger Arbeitslosigkeit, sozialer Zusammenhalt –, ist es sinnvoll, Kredite aufzunehmen. Umgekehrt: Wenn die Kosten der Schulden ihren Nutzen übersteigen, dann ergibt es keinen Sinn, sich zu verschulden. Dabei gibt es noch Nebenbedingungen (etwa, dass man auch Gläubiger braucht). Zudem ist die Unterscheidung in Investitions- und Konsumausgaben von Staaten geboten.

Nachhaltige Investitionen sind keine Schulden, sondern letztlich eine Bilanzverlängerung. Wenn eine Firma eine Maschine auf Kredit kauft, hat sie Verbindlichkeiten bei ihrer Bank – aber besitzt auch die Maschine. Sie hat also weniger Barvermögen, aber ein im gleichen Wert gestiegenes Sachvermögen. Ihre Vermögensposition hat sich in Summe also nicht verändert – und das wird in der Bilanz auch so festgehalten. In den Folgejahren sind dann die Abschreibungen entsprechend zu berücksichtigen. Ähnlich ist es, wenn eine Privatperson eine Wohnung kauft: Sie hat zwar Schulden bei der Bank, besitzt aber eine Wohnung. Geht es der Person dadurch besser oder schlechter?

Wenn der Staat eine Hochschule baut, werden die Kosten (= Ausgaben) in dem Jahr verbucht, in dem der Bau entsteht, auch wenn die Hochschule über Jahrzehnte genutzt werden kann. Deshalb war in der alten Regelung des Grundgesetzes vorgesehen, dass der Staat sich für Investitionen sehr wohl verschulden darf, erstens weil Werte entstehen und zweitens aus Gründen der Generationengerechtigkeit: Warum sollen unsere Kinder den Bau der U5 nicht mitfinanzieren?

Die Schuldenbremse ist ein politisches Projekt

Ökonomen wie der deutsche „Wirtschaftsweise“ Lars Feld argumentieren, dass die Politik es ohne Regeln wie die Schuldenbremse schlicht nicht schaffe, vernünftig zu wirtschaften, da es zu viele Wünsche gebe, die man dann erfüllen wolle. Daran wird deutlich, dass die Schuldenbremse ein politisches Projekt ist, kein ökonomisch argumentiertes. Der Spielraum demokratisch gewählter PolitikerInnen soll aus ideologischen Gründen eingeschränkt werden. Interessanterweise sind es oft dieselben konservativen Kräfte, die eine Schuldenbremse wollen und im Moment der wirtschaftlichen Erholung die Sanierung der Staatsfinanzen mit Steuersenkungen torpedieren. Da die Schulden dann nicht oder langsamer zurückgehen, werden – mit dem Argument der Schuldenbremse – in der Folge staatliche Ausgaben infrage gestellt und Kürzungsprogramme aufgelegt. Wir können das gerade in Österreich beobachten. Alternativ dazu könnte man den Aufschwung auch im Budget wirken lassen und würde die Finanzierung des Sozialstaates nicht unter Druck bringen.

Schauen wir uns den Schuldenstand in Deutschland und Österreich an: Bei Ausbruch der Finanzkrise lag der Schuldenstand in Deutschland bei 63,7 Prozent des BIP. Er stieg dann bis 2010 auf 81,8 Prozent des BIP an und liegt heute bei 60,9 Prozent – also unter dem Vorkrisenniveau. Klassisch antizyklisch also.

Die Staatsschulden in Österreich machten 2007 65,0 Prozent des BIP aus, stiegen auf 82,7 Prozent im Jahr 2010 und sanken dann, bevor sie erneut auf bis zu 84,7 Prozent im Jahr 2015 anstiegen. Der Grund dafür: die Bankenrettung. In den drei Jahren seit 2015 ist der Schuldenstand um über zehn Prozentpunkte auf 73,8 Prozent des BIP gefallen, die aktuellen Steuerpläne der Bundesregierung könnten allerdings eine Verlangsamung dieser Entwicklung bedeuten.

Ein verlorenes Jahrzehnt für Deutschland

Deutschland hat ein Jahrzehnt zur Modernisierung verloren. Es wäre vieles möglich gewesen bei der guten Konjunktur: der Aufbau von Infrastruktur, der Kampf gegen den Niedriglohnsektor, die Bekämpfung der Altersarmut. Mit den Hartz/Riester-Reformen sind die Probleme allerdings verschärft worden, auch wenn partiell gegengesteuert wurde (z. B. Mindestlohn). In Summe muss man in Deutschland (und damit auch in Europa) aber von einem verlorenen Jahrzehnt sprechen.

Föderalismusreformen 2006 und 2009 erschweren sinnvolle Investitionen

Bis zur Großen Finanzreform des Jahres 1969 orientierte sich das Staatsschuldenrecht in der Bundesrepublik Deutschland am Artikel 87 der Weimarer Reichsverfassung – die Kreditaufnahme war zur Finanzierung von Staatsausgaben nicht zulässig. Mit der Großen Finanzreform des Jahres 1969 wurden Kredite neben den Steuereinnahmen zu einem regulären Instrument zur Finanzierung von Staatsaufgaben, namentlich der Investitionen. Sinnigerweise hatte sich die Haushaltspolitik am gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht zu orientieren – eine Zielsetzung, die heute kaum noch eine Rolle spielt (ein ausgeglichener Außenhandelssaldo etwa wird seit Jahren nicht einmal mehr eingefordert). Damit war letztlich auch eine aktive Konjunkturpolitik gefordert.

Die Kreditaufnahme des Staates war dabei investitionsgebunden, die „goldene Regel“ schrieb vor, dass Schulden nur in Höhe staatlicher Investitionen aufgenommen werden durften. Der Neuverschuldung stand immer ein Zugang an Vermögenswerten gegenüber. Erst diese Regelung ermöglichte den Ausbau öffentlicher Infrastruktur in den 1970er-Jahren. Gemeinsam mit den ebenfalls 1969 im Grundgesetz verankerten Gemeinschaftsaufgaben (von Bund und Ländern) wurde so die politische und ökonomische Grundlage für den Ausbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates gelegt. Münch und Meerwaldt (2002) nennen dies „das herausragende Beispiel für den kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland“.

Nur durch die Bundesstaatsreformen des Jahres 1969 war die Bildungsreform der 1970er-Jahre (bspw. Hochschulausbau, BAföG) möglich; die Große Finanzreform mit den Gemeinschaftsaufgaben ist das zentrale politische Instrument für die Durchsetzung einer öffentlichen Investitionspolitik.

Mit den beiden Föderalismusreformen 2006 und 2009 wurde der Grundbestand des kooperativen Föderalismus beendet und das verlorene Jahrzehnt Deutschlands eingeleitet.

Rationale Debatte gefragt

Es ist erfreulich, dass die Schuldenbremse und ihre negativen Wirkungen endlich breit diskutiert werden. Es bedarf dringend eines Mehr an Investitionen, denn Generationengerechtigkeit heißt nicht, marode Schulen, Straßen und Brücken zu vererben. Auch auf europäischer Ebene gibt es zarte Pflänzchen wie den Juncker-Plan („EFSI“) zur Stabilisierung der Investitionen.

Es wurde in der Debatte in Deutschland darauf hingewiesen, dass die Fokussierung allein auf die Schuldenbremse zu ausbleibenden Investitionen führen könnte. Daher muss der Fokus auf Investitionen gerichtet werden, ohne diese gegen den Sozialstaat auszuspielen.